«Bis zu meiner Anstellung beim Deutschen Fussballbund (DFB) habe ich als Basler immer gehofft, dass die deutsche Fussball-Nationalmannschaft verliert. Und plötzlich hatte ich mich dafür einzusetzen, dass sie gewinnt», kommentierte Urs Siegenthaler ironisch seinen Frontenwechsel im Jahr 2005. Und wenn er propagiert, dass Erfolge oft nur über Veränderungen realisierbar sind, musste er damit wohl zuerst bei sich beginnen. Leicht gemacht wurde es ihm nicht. Dass ihnen ausgerechnet ein Schweizer den Fussball erklären sollte, stiess vielen Deutschen sauer auf; dazu noch ein Basler. Basler seien ja eher berühmt für «ihri grossi Schnuure», bekannte Siegenthaler.
Die (Ohn-)Macht der Gewohnheit
«Unsere Zeit ist geprägt von raschen Entwicklungen. Was einst als Utopie erschien, ist heute Realität, und was heute als Unmöglichkeit gilt, wird morgen Tatsache. Um erfolgreich bestehen zu können, müssen wir oft das Unmögliche möglich machen. Dies bedingt eine radikale Änderung unseres Denkens», umschrieb Siegenthaler die aktuellen Herausforderungen, und illustrierte dies am Beispiel der deutschen Fussball-Nationalmannschaft: «2004 stand das Bundesteam weltweit an 16. Stelle. 2002 wurde es zwar Vize-Weltmeister. Aber in den von der mächtigen Boulevardpresse geschürten Erwartungen der deutschen Öffentlichkeit zählte nur der Weltmeistertitel. Entgegen der Prognosen vieler Experten war dieser Titel unser klares Ziel. Damit standen wir aber vor einem langen, steinigen Weg, wo vieles oft buchstäblich an einem seidenen Faden hing. Als Erstes galt es, die (Ohn-)Macht der Gewohnheit zu durchbrechen. Gewohnheiten, die bequem waren, weil man es schon immer so gemacht hatte. Wir alle mussten lernen, anders zu denken, grundlegende Änderungen zu akzeptieren und daran zu glauben, dass ein eigentlich ausser Reichweite erscheinendes Ziel realisierbar ist. Der Glaube an dieses Ziel und die Begeisterung dafür zu wecken, erforderte viele Einzelgespräche. Es galt, alle an Bord zu holen.» Auf ihrem langen Weg wurden die Deutschen an der Weltmeisterschaft 2006 und an jener von 2010 immerhin Dritte. In der verwöhnten deutschen Fussballwelt galt dies nichts. 2014 gelang der Durchbruch: Deutschland wurde Weltmeister.
Die Erfolgsfaktoren
Der Weg dazu, so der Basler Chef-Scout, führte über klare Vorgaben, strenge Regeln im gegenseitigen Umgang, eine neue Kultur, einen Generationenwechsel und die Änderung des Spielsystems. Die Mentalität habe sich radikal geändert. Jeden Morgen gäben sich die Spieler zur Begrüs-
sung die Hand. Am Tisch gelte absolutes Handy-Verbot. Die Deutschen hätten heute den Ruf einer anständigen Mannschaft. An der WM 2014 beging sie am wenigsten Fouls, spielte schönen Fussball, schoss am meisten Tore und musste am wenigsten Gegentreffer einkassieren. Auf dem Spielfeld war jeder bedingungslos bereit, sich auch für seine Mitspieler einzusetzen. Details zu Taktik, Spielsystem und zur Umsetzung verriet Siegenthaler aus verständlichen Gründen nicht.
Anhand der Brasilianer, die im Halbfinal gegen die Deutschen historisch einmalig mit 7 zu 1 verloren, zeigte der Basler auf, dass nicht jede Änderung zum Ziel führt: «Sie haben ihren Spielstil umgekrempelt und versucht, ebenso grob zu spielen wie die Deutschen. Dabei vergas-
sen sie ihren feinen technischen Fussball und beraubten sich ihrer eigenen Spielstärke. Dies war ganz klar kontraproduktiv.»
Parallelen ausserhalb
des Fussballs
Was im Spitzensport gilt, gilt auch in der Wirtschaft, ist Siegenthaler überzeugt: «Um die Existenz einer Firma zu sichern, muss man manchmal Wege gehen, die im Moment unvorstellbar sind und dafür die Mentalität der ganzen Belegschaft ändern. Zentral dabei ist das persönliche Gespräch. Kein E-Mail, kein Internetportal und kein ‹iPhone› kann das Gespräch ersetzen. Nur im Gespräch lernt man kreativ denken und sich eine eigene Meinung bilden, und nur über das Gespräch lässt sich mein Gegenüber motivieren und begeistern. Angesichts der modernen elek-
tronischen Kommunikationsmittel droht die Gesprächskultur verloren zu gehen», befürchtet der Chef-Scout und erinnert daran, dass auch ausserhalb des Spitzensports radikale Änderungen immer gut durchdacht sein wollen. Änderungen, um der Änderung willen, bringen nichts.
Urs Siegenthaler gilt neben dem deutschen Nationalcoach, Joachim Löw, als Baumeister des deutschen WM-Titels. Der Erfolg scheint seinen Thesen recht zu geben.