«Denn ich weiss, was ich will»

«Denn ich weiss, was ich will»

250 Berufe beinhaltet das Lehrmittel für die Oberstufe. Dazu kommen etliche Studiumsmöglichkeiten und weitere Schulen. Auf der anderen Seite sind die jungen Menschen, die eine 1. grosse Entscheidung treffen und über allem steht eine sich wandelnde Gesellschaft. Das sorgt für viele Fragen. Aber es gibt auch Expertinnen und Experten, Antworten geben.

«Bei jungen Menschen ist noch vieles offen, sie sind noch in einer Findungsphase», weiss Tanja Tanner. Seit 10 Jahren ist sie Berufs- und Laufbahnberaterin an der Oberstufe in Düdingen. «Bei den Jungen erlebe ich oft eine Orientierungslosigkeit, sie wissen wenig über sich selber Bescheid», stellt Dr. Martin Sassenroth fest. Er ist Pädagoge und Coach mit einer eigenen Beratungsfirma in Liebefeld. «Eigentlich bräuchten die Jugendlichen mehr Zeit, sich entfalten zu können», analysiert Dr. David Glauser. Er ist der Co-Projektverantwortliche der DAB-Panelstudie der Universität Bern, die der Frage nachgeht, welche Faktoren die Berufs- und Ausbildungswahl sowie den tatsächlichen Übergang von der Sekundarstufe I über die Sekundarstufe II in die Tertiärstufe beziehungsweise in den Arbeitsmarkt beeinflussen.

Die Sinnfrage
Es ist die einzige Studie, die Informationen erhebt, was sich die jungen Menschen vor dem Schulaustritt wünschen, und anschliessend deren Ausbildungsverlauf und Erwerbseintritt verfolgt. Nach 7 von 10 Jahren kann der Forscher erste vorsichtige Schlüsse ziehen: «Wenn junge Menschen Arbeitsinhalt, Lohn und Arbeitszeit gewichten müssen, so ist ihnen der Inhalt besonders wichtig.» Tanner hingegen hat andere Erfahrungswerte und meint: «Der Verdienst ist ein wichtiges Argument.» Das ist jedoch kein Widerspruch, wie Sassenroth erklärt: «Der Gegenspieler zu sinnvoller Arbeit ist immer die finanzielle Sicherheit. Aber die Sinnfrage wird immer wichtiger. In der modernen Arbeitsphilosophie ist die Selbstwirksamkeit eine Schlüsselrolle.» Dazu muss man sich und seinen Eigenschaften erst einmal auf die Schliche kommen, wo kann ich etwas bewegen, wo habe ich das Steuer in der Hand. Der Verdienst mag also eine wichtige Rolle bei der Berufswahl spielen, laut Sassenroth ist jedoch eine Entwicklung im Gange, in der die Sinnfrage immer wichtiger wird.

Das macht die Laufbahnberatung noch wichtiger. Nicht nur um Möglichkeiten aufzuzeigen, eine Auslegeordnung zu finden, sondern als Unterstützung, sich selber zu reflektieren und das Achselzucken bei der Berufswahl zu minimieren. Damit immer weniger, wenn sie vor der Vielzahl an Möglichkeiten stehen, sagen müssen: «Ich weiss doch au nid.» Die Beraterin aus Düdingen achtet dabei auf ein möglichst realistisches Bild. «Es ist wichtig, Chancen und Risiken angepasst an die eigenen Möglichkeiten aufzuzeigen», sagt Tanner. Begleitend existiert im Lehrplan 21 neu das Schulfach «Berufliche Orientierung» und soll dem Satz «Ich weiss doch au nid» weiter entgegenwirken. Den grössten Einfluss in diesem Prozess haben laut ihr nach wie vor die Eltern: «Manchmal wählen sie ihre erste Ausbildung, um den Eltern zu gefallen. Es kann vorkommen, dass sie später dann noch ihre Richtung ändern.»

Die Chancenfrage

Die Sinnfrage mag dem langsam aber sicher entgegenwirken und die angepassten Angebote an der Schule unterstützen diesen Weg. Dennoch zeigt diese Aussage von Tanja Tanner, wie wichtig ein durchlässsiges Bildungsangebot ist, damit junge Menschen zu einem späteren Zeitpunkt sich noch umorientieren können. Glauser unterstreicht dies mit Daten aus der Studie, sieht hingegen ­Probleme in der Umsetzung: «Es ist auf alle Fälle nicht einfach für Jugendliche, das zu bekommen, was sie wirklich möchten. Zum einen sind die Angebote zwischen Stadt und Land unterschiedlich gut und variieren auch regional, zum anderen besteht eine Chancenungleichheit, wer sich eine weitere Ausbildung leisten kann und wer nicht.» Es existieren also Möglichkeiten dank eines durchlässigen und vielfältigen Angebotes in der Schweiz, aber nicht jede und jeder hat die Möglichkeiten dazu. Hier wünscht sich der Forscher mehr Chancengleichheit und noch mehr Möglichkeiten. Tanner hat selber nach ihrer Ausbildung zur Lehrerin eine Zweitausbildung gemacht, um Berufsberaterin zu werden. Sie macht trotz dieser noch ungelösten Situation Hoffnung: «In der Theorie heisst es kein Abschluss ohne Anschluss, in der Praxis muss man bereit, sein die Komfortzone zu verlassen, und das tut man, wenn der Leidensdruck gross genug ist.»

Die Karrierefrage

Wer die Sinnfrage beantwortet hat, realistisch mit sich und der Antwort umgeht und bereit ist, die mitunter noch nicht optimale Durchlässigkeit in Kauf zu nehmen, der denkt nicht unbedingt an eine Karriere bis in die Chef­etage. «Heute sind die Jungen nicht mehr so scharf auf Führungsjobs. Individuelle Bedürfnisse sind zunehmend wichtiger», erkennt Sassenroth. Es gibt auch ein Leben neben dem Beruf und das gewinne gesamtgesellschaftlich an Bedeutung. Jungendliche denken oft in Projekten und dabei kann es völlig in Ordnung gehen, wenn man dadurch nicht zuoberst auf der Leiter steht, Hauptsache es bleibt spannend und abwechslungsreich. Entsprechend kündigen junge, gut ausgebildete Menschen schneller als ältere. Der Coach wertet diese Tendenz nicht, er fordert aber die Arbeitswelt auf: «Man muss flexibler werden.»

Die Digitalisierungsfrage

An der Berufsberatung in Düdingen weisst Tanner darauf hin, wenn Berufe mögliche Auslaufmodelle sein könnten. Sie hat den Radar für die Entwicklungen und arbeitet etwa mit Jugendlichen, die in einer Nische ihre Ausbildung machen möchten, einen Plan B aus. Die Digitalisierung und deren Auswirkungen sind dabei zentral. «Auch wenn dies bei den Jugendlichen selber noch etwas weniger präsent ist», wie sie weiss. Einerseits schafft diese Entwicklung Platz für Kreatives, ersetzt eintönige Abläufe, die der Sinnfrage kaum nachkommen, anderseits «können wir irgendwann nicht mehr alle Leute beschäftigen», befürchtet Sassenroth. Eine Lösung sieht der erfahrene Coach darin, «sich als Gesamtgesellschaft vielleicht einmal die Frage nach einem Grundeinkommen, im Sinne von überleben können, zu stellen. Damit könnten die Menschen projektbezogen arbeiten, unabhängig vom Lohn. Das wird uns zukünftig beschäftigen, prophezeihe ich.»

Die Bildungsfrage

Glauser beleuchtet von einer anderen Seite und kommt zu einem ähnlichen Schluss: «Die Digitalisierung wird Chancen und neue Märkte bieten. Das sind aber alles Jobs, die viel Bildung voraussetzen. Anderseits kann man nicht alle ewig in der Bildung behalten. Vielmehr sollte man dafür Sorge tragen, dass viele eine Chance erhalten.» Zum einen ein Plädoyer für mehr Chancengleichheit und damit eine Aufgabe für Bund und Kantone, anderseits dafür, dass die Sinnfrage nicht ein Studium bedingt. Im Gegenteil, handfeste Berufe mit einer Lehre sind wertvoll und sinnstiftend. Eine möglichst gute Bildung, egal in welchem Gebiet, gewinnt in Anbetracht der zu erwartenden Entwicklung noch mehr an Bedeutung.

Die jungen Menschen müssen sich entwickeln können, sie bringen die Innovation von morgen. Daran muss sich die Berufswelt orientieren. Auf der anderen Seite brauchen die Jugendlichen Chancengleichheit und Durchlässigkeit im System, um der Sinnfrage nachgehen zu können und eine angepasste Ausbildung absolvieren zu können. Laufbahnberaterinnen und Coaches sind zu unverzichtbaren Begleitern geworden, damit möglichst viele den Satz «Ich weiss doch auch nicht» ersetzen können durch die Aussage: «Ich weiss, was ich will.» Willkommen im Wandel.

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