«Ich hatte eine herausfordernde Jugend», sagt Judith Weber. Sie wuchs zusammen mit drei Geschwistern unter christlicher Erziehung auf dem Bauernhof ihrer Eltern auf. Ihre jüngste Schwester hatte eine schwere körperliche und geistige Beeinträchtigung, die eine Rundum-Betreuung forderte. Das familiäre Zusammenleben konzentrierte sich auf die besonderen Bedürfnisse der Schwester, was Weber jedoch nie als ungerecht empfand. «Ich hatte nicht das Gefühl, zu kurz zu kommen. Dass meine Eltern auf die Bedürfnisse meiner Schwester mehr eingehen mussten, war für mich nachvollziehbar. Ich lernte früh, dass Gesundheit ein Geschenk und nicht selbstverständlich ist», erklärt sie.
«Anderssein» als Angriffsfläche
Schwierig waren jedoch die Hänseleien in der Schule. Neben negativen Bemerkungen zu ihrer Schwester sorgte die Art, wie sie sich kleidete, des Öfteren für Gesprächsthemen bei den Mitschülern. «Als ehemalige Christin trug ich einen Rock und hatte Haarzöpfe – gerade in der Pubertät, wo alle gleich sein und reinpassen wollen, fiel ich mit meinem Äusseren auf.» Dass das «Anderssein» als Angriffsfläche diente, störte die heutige Therapeutin schon damals. Die persönliche Entwicklung, die Weber in dieser Zeit machte, liess sie hinterfragen, was richtig und falsch ist und ob es nicht auch Mittelwege gibt. Der christliche Glaube, der ihren Eltern viel Kraft gegeben hatte, fühlte sich für die Ueberstorferin einengend und fremdbestimmt an. Mit zwanzig Jahren verliess sie schliesslich ihr Elternhaus. Entschlossen, pragmatische Haltungen über Bord zu werfen, wollte Weber mehr vom Leben und verfolgte ihren eigenen Weg.
Diagnose Autismus
Sie arbeitete, wurde Mutter von zwei Kindern und lebte nun nach ihren eigenen Grundsätzen. In den ersten Lebensjahren ihres Sohnes fiel ihr auf, dass ihr Junge in sozialen Situationen sensibler als andere reagierte und mit Reizüberflutungen zu kämpfen hatte. Im Kindergartenalter folgte schliesslich die Diagnose Autismus. Das bedeutet u. a., dass ihr Sohn Informationen anders wahrnimmt und verarbeitet. Er benötigt viel Struktur und mehr Erholungsphasen, da er sich oft anpasst, um nicht aufzufallen und mithalten zu können
Schwierige Zeit
Nach einer intensiven Zeit mit ihrem Sohn, vielen Nächten mit wenig Schlaf und emotionalen Kämpfen fühlte sich Weber ausgelaugt und erschöpft. Die Balance zwischen Arbeit, gesellschaftlichen Verpflichtungen und Mutter eines Sohnes mit besonderen Bedürfnissen, ertränkte sie. «Jeder Mensch bringt etwas Einzigartiges mit in diese Welt. Ich stellte mir in dieser schlechten Zeit die Frage, warum bin ich hier und lebe ich mein Leben so, wie ich es möchte oder wie es die anderen gerne hätten.» Ab da hat sich Weber für ihre Selbstsorge eingesetzt. Beruflich musste sie zurückstecken, da die Fremdbetreuung für ihren Sohn nicht mehr wie bis anhin funktionierte. «Ich musste lernen, anders mit dieser Situation umzugehen.» Die nötige Kraft konnte Weber aus der Meditation schöpfen. Als sie mit mentalem Training begann, profitierte auch ihr Sohn von dieser neuen Energie. Schliesslich absolvierte Weber die Ausbildung zur Entspannungs- und Mentaltrainerin sowie zur Hypnosetherapeutin. Zudem gibt sie für Autismus Bern Kurse, wo sie Eltern mit neurodiversen Kindern begleitet.
Weg vom Schubladendenken
«Von der Gesellschaft wünsche ich mir mehr Offenheit, vor allem in Bezug auf Menschen mit besonderen Bedürfnissen», sagt sie. Es sei wichtig, sich mehr auf sein Gegenüber einzulassen, zuzuhören und weg vom Schubladendenken zu kommen. «Alle Menschen haben ihre Stärken und Schwächen. Heutzutage scheinen die Schwächen jedoch mehr ins Gewicht zu fallen», meint sie. Für sie sei wichtig, dass ihr Sohn an sich glaube und sein Selbstvertrauen nicht verliere. «Wir werden uns noch mit vielen gesellschaftlichen Themen befassen müssen, sehen diese jedoch als Herausforderungen. Denn sie bieten Chancen für neue Möglichkeiten und lassen uns gemeinsam wachsen.»
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Inklusion bedeutet, dass alle Menschen dazu gehören und ins gesellschaftliche Leben einbezogen werden. Dazu gehören auch Menschen mit Behinderungen, unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, jeglichen Alters, Geschlechts, Bildungsstands oder sozialer Schicht. Innerhalb einer Artikelserie widmen wir uns diesem Thema in verschiedenen Beiträgen.