Christine Segesser, was genau bedeutet Palliative Care?
Palliative Care ist breit zu verstehen und umfasst nicht nur den letzten Lebensabschnitt, sondern kann bereits viel früher einsetzen, beispielsweise bei der Diagnosestellung einer chronisch unheilbaren Krankheit wie Demenz oder Herzinsuffizienz. Sie trägt dazu bei, die Lebensqualität bzw. das Wohlbefinden von Patientinnen und Patienten sowie ihren Familien zu verbessern. Gemäss WHO-Definition geschieht dies mittels «Vorbeugen und Lindern von Leiden durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art».
Wie kommen Sie als dipl. Pflegefachfrau bei der Spitex mit Palliative Care in Berührung?
Da Palliative Care früh einsetzen kann, komme ich oft damit in Berührung. Bei Menschen, die neu auf Spitex angewiesen sind, gehört es u. a. zu meinen Aufgaben, nach einer Patientenverfügung zu fragen. Dabei erläutere ich immer, wie hilfreich es für Angehörige ist, wenn in der Familie (oder im Freundeskreis) über Wünsche zur Behandlung gesprochen wird. Und noch hilfreicher ist es, wenn diese schriftlich zur Verfügung stehen. Eine Patientenverfügung erleichtert es Nahestehenden und der Ärzteschaft, nach den Wünschen der Betroffenen zu handeln, wenn sie diese nicht mehr selbst äussern können. Wir pflegen mehrheitlich ältere Menschen, aber immer wieder auch jüngere. Ich zeige den Menschen, die Spitex-Dienstleistungen in Anspruch nehmen, Möglichkeiten auf, um Beeinträchtigungen durch Krankheiten oder das Alter erträglicher zu gestalten. Dies kann mit Hilfsmitteln, mit symptomlindernden Medikamenten oder auch mit Unterstützung auf psychischer oder sozialer Ebene geschehen. Trotz Einschränkungen ist – zumindest zeitweise – Wohlbefinden möglich. Dabei ist es sehr hilfreich, ein tragendes Netzwerk mit Angehörigen, der Nachbarschaft, Ärztinnen und Ärzten, dem mobilen palliativen Dienst (MPD), Seelsorgenden und weiteren Beteiligten aufzubauen. Dies kann manchmal auch zu Spannungen führen, zum Beispiel bei gegensätzlichen Ansichten zur Betreuung.
Können Sie das genauer erklären?
Oft ist es für Betroffene schwer, Hilfe anzunehmen. Die Angst, anderen zur Last zu fallen, ist weit verbreitet. Der Wunsch nach Autonomie und die Angst vor Abhängigkeit stehen im Widerspruch dazu, dass Unterstützung benötigt wird. Dies anzuerkennen und Hilfe, beispielsweise durch Angehörige und Dienstleistende, anzunehmen, ist ein Prozess. Umso wichtiger ist es, dass Betroffene, Angehörige und Dienstleistende (Pflege, Ärzteschaft, Therapeuten usw.) am gleichen Strick ziehen.
Wie tragen wir als Gesellschaft dazu bei, dass Menschen am Ende ihres Lebens gut begleitet und betreut werden?
Die Endlichkeit sollte wieder einen Platz in der Gesellschaft erhalten, denn wie die Geburt ist auch das Sterben ein natürlicher Vorgang. Sterben wurde aus unserer Gesellschaft verdrängt. Ich bin froh, wieder eine Gegenbewegung zu erkennen. Früher war der Tod sichtbarer: So lebten häufig zwei bis drei Generationen unter einem Dach und dies bis ans Lebensende. Wir können einander unterstützen, indem wir über schwere Themen wie Krankheit und Tod sprechen und auf Betroffene und ihre Angehörigen zugehen. Nach einem Todesfall könnten wir die Nachbarin (wie gewohnt) ansprechen oder je nach Vertrautheit gemeinsam mit ihr weinen, statt aus Angst vor fehlenden Worten Begegnungen zu vermeiden.
Ist Ihre Arbeit oft von Traurigkeit geprägt; wie gehen Sie mit belastenden Aspekten um?
Es kommt immer wieder vor, dass mich Schicksale sehr betroffen machen. Gerade wenn ein jüngeres Elternteil von schwerer Krankheit betroffen ist. Jedoch erlebe ich viele berührende Momente, zum Beispiel, wenn eine Familie ein Mitglied in der Krankheit und im Sterbeprozess einfühlsam begleitet. Ich empfinde es als grosse Bereicherung, Menschen in ihrem eigenen Zuhause in intensiven Momenten unterstützen zu dürfen. Der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, im Freundeskreis, mit meinem Mann und Bewegung in der Natur sind dabei wertvoll.
In Ihrem Beruf werden Sie regelmässig mit dem Tod konfrontiert. Nimmt das die Angst vor der eigenen Endlichkeit?
Meine Arbeit trägt sicher dazu bei, dass ich dem Tod gelassener gegenüberstehen kann. Dank meiner Arbeit weiss ich beispielsweise, dass es wirksame Medikamente gibt, die Atemnot lindern oder den Sterbeprozess erleichtern können. Wer sich mit seiner eigenen Endlichkeit auseinandersetzt und sich frühzeitig informiert, kann Entscheidungen bewusster treffen und vor allem dann, wenn er noch in der Lage dazu ist.


