Heikles will man nicht immer hören

Heikles will man nicht immer hören

Demokratie. Ein Wort, das Petra Burri (Aufrecht Bern), Franz Böni (Mass-Voll!), Jorgo Ananiadis (Piraten) und Niklaus Burri (EDU) immer wieder zücken. Sie wollen bei den National- und Ständeratswahlen am 22. Oktober all jene Menschen gewinnen, die sich von den grossen Parteien nicht abgeholt fühlen.

«Die Gesellschaft ist nicht mehr als Ganzes abgedeckt», stellt Franz Böni (Mass-Voll!) fest. «Es braucht frischen Wind. So wie mir ergeht es wohl einigen: ich fühle mich keiner etablierten Partei mehr zugehörig», erklärt Petra Burri (Aufrecht Bern). «Die Bewirtschaftung der Probleme nimmt weiter zu. Es gibt kaum Veränderung und noch weniger Perspektiven», analysiert Jorgo Ananiadis (Piraten). «Die grossen Parteien können lange nicht alles abdecken. Wir können Menschen, die sich nicht abgeholt fühlen, ernster nehmen als andere Parteien», fasst Niklaus Burri (EDU) zusammen. Herrscht bei all diesen «Kleinen» Einigkeit, Brüderlichkeit und Gleichheit?

Politisches Long-Covid

In dem Punkt, dass die Gesellschaft als Ganzes nicht mehr im Parlament abgebildet sei auf jeden Fall. Thematisch aber unterscheiden sich die vier in einigen Punkten. Aufrecht Bern und Mass-Voll! sind aus dem Teil der Bürgerinnen und Bürgern herausgewachsen, die sich von den Corona-Massnahmen bevormundet und benachteiligt gefühlt haben. Entsprechend ähnlich gestalten sich die Themen und Argumente der beiden Gruppierungen. «In der Coronazeit ist Ungerechtigkeit und Unmut entstanden, wir wollen solches in Zukunft verhindern», sagt Petra Burri und Böni nennt ein aktuelles Beispiel, wie das gehen soll: «Die WHO (Welt-Gesundheitsorganisation) schliesst einen Pandemiepakt mit allen Mitgliedsländern ab. Die Schweiz wird da vermutlich ohne Rücksprache mit dem Volk mitmachen. Das werden wir so nicht zulassen.» In diesem Thema kann sich die EDU etwas zurücklehnen. Sie setzt sich verstärkt für die Ernährungssicherheit ein. «Unser Selbstversorgungsgrad liegt etwa bei 50 %. Das sollte höher sein; Stichwort Food-Waste, 1/3 der Nahrung wird nicht verwertet und obendrein sind auch die Anreize in der Lebensmittelbranche falsch gesetzt», betont der Könizer Landwirt Niklaus Burri. Seit 14 Jahren kämpfen die Piraten indes für mehr Transparenz, bessere Bildung und Selbstbestimmung. Vor allen Dingen im digitalen Raum kritisieren sie immer wieder Entscheide der Verwaltungen, des Bunds und des Kantons.

Freiheit über allem?

Dass sich die Anwesenden zwar gut verstehen, aber nicht in allen Punkten einig sind, offenbart sich bei der Landwirtschaft. Böni nutzt das Thema, um sein wichtigstes Anliegen einzubringen: Freiheit. Entsprechend meint er: «Subventionen verlängern nur künstlich, was vielleicht sonst keine Chance hätte. Der freie Markt soll in der Landwirtschaft wirken dürfen.» Petra Burri ergänzt den freiheitlichen Gedanken: «Die Frage ist doch: wenn ich auf die Direktzahlungen verzichte, darf ich dann auf meinem Land machen, was ich will?» Landwirt Niklaus Burri nimmt diese Vorschläge so gelassen und ruhig entgegen, wie wenn dem Stier eine einzelne Fliege auf den Buckel hockt. Darauf angesprochen meint er nur: «Ich bin ein Agglo-Bauer. So nah an der Bevölkerung ist man ständig in einem regen Austausch und hört so einiges.» An die Adresse seiner Namensvetterin Petra Burri gerichtet, meint er: «Das habe ich mir auch schon überlegt. Das Problem ist aber, du musst Abnehmer finden, die das überhaupt dürfen.» Der freiheitliche Gedanke, den Böni einbringt, lässt die vier aber zu einer grossen Übereinstimmung gelangen: Es braucht weniger Staat und weniger Gesetze. 

Ablasshandel mit dem Gesetz

«Wie gut ist die Volksschule oder was würde passieren, wenn der Staat sich hier etwas zurücknehmen würde?», wirft Böni den nächsten äusserst freiheitlichen Gedanken in die Runde. Bildung – ein Kernthema der Piraten, die eine bessere Ausbildung der Lehrpersonen fordern, insbesondere für die digitalen Herausforderungen. Deshalb ist Ananiadis nicht gänzlich dagegen, zieht aber die Diskussion weg aus der Bildung ins Allgemeine und in Richtung Gesetzgebung: «Wir haben zu viel Gesetze. Diese sollten ein Ablaufdatum haben, wie ein Joghurt. Man muss sie regelmässig neu überprüfen.» Die Einigkeit ist nun voll und ganz erreicht. Die vier schlagen vor: wenn man ein neues Gesetz einführt, müssen drei alte weg. So soll der Staat schlanker und weniger träge werden. Für Aufrecht Bern führt der Weg hierbei weg von Verwaltungen, Bund und Kantonen. «Wir wollen den Gemeinden wieder mehr Autonomie zurückgeben», ergänzt Petra Burri.

Themen-Bewirtschaftung

Sind sich die vier auch noch einig, wenn man ein grosses Wahlthema des Jahres 2023 heranzieht und nach Lösungen fragt? Wie wollen sie die stetig steigenden Krankenkassenprämien in den Griff bekommen? Sie ahnen es: der überzeugt freiheitliche Böni eröffnet sinngemäss: «Das Obligatorium gehört abgeschafft. Ich skaliere mein Risiko selbst. Die Regulationswut muss weg.» Die klare Ansage wird vom Piraten Ananiadis gedämpft: «Ich glaube, dass man den freien Markt bei der Gesundheitsbranche nicht einführen kann. Sehr wohl aber gehören die Krankenkassen abgespeckt. Zudem sollte die Politik viel härter mit den Beteiligten verhandeln. Es kann doch nicht sein, dass wir in einem Land, in dem so viele Medikamente hergestellt werden, mehr bezahlen müssen als anderswo.» Die Pat-Situation in der gegenwärtigen Gesundheitspolitik fasst Petra Burri zusammen: «Es wird ständig an irgendwelchen Schräublein gedreht, ohne dass sich eine Besserung einstellt. Klar ist, das System, wie wir es heute haben, hat versagt. Den Markt ganz zu öffnen, sehe ich aber eher kritisch, weil es vermutlich nur viele Sozialfälle generieren würde.» Einen Ansatz für eine neue Lösung bringt nun Niklaus Burri ein: «In Kanada bezahlen die Menschen über eine Mehrwertsteuer ihre Krankenkasse. Das System ist schlank und funktioniert aus meiner Sicht ziemlich gut. Das sollte man einmal überprüfen.»

Was die Krankenkassen-Diskussion offenbart,  ist wie die Zusammenfassung eines Gesprächs, in dem Franz Böni (Mass-Voll!), Petra Burri (Aufrecht Bern), Niklaus Burri (EDU) und Jorgo Ananiadis (Piraten) weder hitzig noch verschwörerisch entdriften, sondern sachlich neue Ansätze überdenken. Wichtige Probleme oder Anliegen der Bevölkerung werden meist nur bewirtschaftet statt gelöst, sind sie sich einig. «Wir haben eine Tinder-Demokratie», meint der Pirat in der Runde zusammenfassend. Deshalb suchen diese Parteien und Bewegungen nicht in den alten Gewässern nach Lösungen, sondern brechen auf zu neuen Ufern. Vielleicht mag dann nicht alles immer so einfach umsetzbar sein, wie es klingt. Aber es entstehen an diesem Abend einige neue Ansätze. Ob das für einen Nationalratssitz reicht, ist schwer abzuschätzen; aber vielleicht war das der Beginn einer losen Zusammenarbeit für die eine oder andere Initiative. Das zumindest beschliessen sie am Ende des Gesprächs. Berührungsängste vor schweren Themen kennen sie auf alle Fälle nicht. Heikles will man nicht immer hören. Aber mit diesen Vieren wird es genau dazu kommen.

Nachgefragt beim Nationalratskandidat und ehemaligen
Berner Bauernpräsident Hans Jörg Rüegsegger (SVP):

Um die kleinen Parteien einschätzen zu können, hat die Könizer Zeitung | Der Sensetaler bei der grössten Schweizer Partei, der SVP, nachgefragt, wie sie die Chancen und Risiken dieser kleinen Parteien einschätzt?

«Für den Ständerat sind die Chancen sehr klein. Ich denke allerdings, dass die EDU ihren Nationalratssitz verteidigen kann. Mittels Listenverbindung versuchen die Kleinen einen zweiten Sitz zu holen. Das dürfte schwierig werden, selbst wenn sie der SVP ein paar Stimmen nehmen könnten. Ich glaube, dass die SVP näher am 8. Sitz ist, als die Listenverbindung der EDU mit den Kleinen für ihren zweiten. Dazu fehlt ihnen aus meiner Sicht ein klares Profil. Aber ich will auch betonen, dass ich jeder Person dankbar bin, die sich politisch engagieren möchte. Wir brauchen solche Menschen und für eine ausgewogene Demokratie muss es auch für diese Kleinen Platz geben. Wichtig ist aber, dass sie nicht quer schlagen, sondern sich am demokratischen Prozess beteiligen. Wir haben in der Schweiz ein gutes System mit viel Nähe zu den Bürgern. Dieses gilt es zu respektieren und sich danach zu richten.»

Hans Jörg Rüegsegger

Nachgefragt bei Nationalrätin Christine Badertscher (Grüne), Mitglied der aussenpolitischen Kommission: 

Um die kleinen Parteien einordnen zu können, hat die Könizer Zeitung |
Der Sensetaler auch auf der linken Seite nachgefragt, wie sie die Chancen dieser Parteien einschätzt. Nationalrätin Christine Badertscher antwortet: «Grundsätzlich muss mal festgehalten werden, dass Meinungsfreiheit wichtig ist. Insofern begrüsse ich eine Politik, die möglichst alle Bevölkerungsteile beinhaltet. Ich glaube die Pandemie-Politik hat bei manchen Menschen einen grossen Frust losgetreten. Kritiker haben sich deshalb formiert. Bei Aufrecht Bern oder Mass-Voll! war das sicherlich der Auslöser, sich politisch zu engagieren. Aber ich befürchte, dass sich in diesen Gruppierungen auch ein paar Leute tummeln, die gewissen Verschwörungstheorien nahe stehen oder zumindest Fakten teilweise recht ergebnisoffen interpretieren. Deshalb appelliere ich an diese Menschen, sich im politischen System einzubringen, und zwar von unten nach oben, in der Gemeindearbeit, dann im Kanton und auf nationaler Ebene. Die EDU hat diesen Weg ja bereits beschritten. Sie halten sich an demokratische Prinzipien und ich wünsche mir, dass dies alle tun werden. Besonders im Jahr 2023, in dem die Schweiz ja 175 Jahre Bundesverfassung feiert.»

Christine Badertscher

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