Aufgewachsen ist Flavia Pauli in Rüschegg Gambach, wo sie bei ihren Eltern wohnt. Ihre Mutter ist Primarlehrerin, ihr Vater Schreiner. «Ich ging gerne zur Schule, war an vielen Fächern interessiert und hatte immer gerne Mathematik», erzählt die 24-Jährige. Das Gymnasium wäre eine Option gewesen, aber eher als Notlösung, wenn sie keine Lehrstelle gefunden hätte. «Ich wusste früh, dass ich Hochbauzeichnerin werden will», sagt Pauli. Sie schnupperte in einer Bäckerei, konzentrierte sich aber sonst auf Architekturbüros. Sie machte Handzeichnungen, Massaufnahmen und beschäftigte sich mit dem CAD-Programm. Und dennoch meint sie: «Es ist schwer, sich nach einigen Schnuppertagen vorzustellen, welche Arbeiten einen erwarten.» Der Andrang auf die Lehrbetriebe war gross, Pauli fand beim Architekturbüro «Weiss + Kaltenrieder AG» in Bern «erst recht spät und mit etwas Glück» eine Anstellung, da die Firma zunächst keine Lehrstelle anbieten konnte.
Der Zeichnerberuf
«Die Lehrzeit war spannend und kam mir entgegen, weil ich vielfältige Interessen habe – man benötigt Kenntnisse über die Projektphasen und Abläufe vieler Berufsgattungen auf dem Bau», resümiert Pauli. «Der Zeichnerberuf hat mir gefallen, aber es war bald klar, dass ich neue Her-
ausforderungen brauche.» Sie absolvierte während der Lehre den BMS-Vorkurs und kam deshalb prüfungsfrei in die einjährige technische Berufsmittelschule an der «gibb» in Bern. Danach machte sie während drei Monaten ein Praktikum in einem Ingenieurbüro und arbeitete, um die Zeit bis zum Studium zu überbrücken, nochmals ein knappes Jahr in ihrem Lehrbetrieb.
Mehr als Strassen und Kanalisation
Der Entscheid für das Bauingenieurwesen war keine klare Sache: «Ich hatte mich zuerst im Inge-
nieurhochbau eingeschrieben, aber dort wird man eher Fachplanerin, während man im Tiefbau die Projekte auch leitet, was mich mehr interessierte. Beeinflusst hat mich auch der Arbeitsmarkt, der in der Architektur eher gesättigt ist. Zudem hat mich das Gestalterische weniger interessiert als das Technische.» Sie wählte «aus dem Bauch» die Studienrichtung «Verkehr und Wasser», obwohl sie Vorbehalte hatte: «Ich hätte nie gedacht, dass das Gebiet wesentlich mehr umfasst als Stras-sen und Kanalisationen – das habe ich erst während des Studiums herausgefunden.»
Frauenmangel
Das Studium an der Fachhochschule in Luzern dauerte drei Jahre, während derer Pauli unter der Woche bei ihrer Schwester in Langnau wohnte. Die Bachelorarbeit zum Thema «Sanierung Fischwanderung Dotierkraftwerk Aarberg/Alte Aare» reichte sie im Juni 2022 ein, dann folgten die Präsentation und die Prüfungen. Pauli erreichte die beste Note des Jahrgangs in ihrer Studienrichtung. Mit einem Vorurteil will sie aufräumen: «Viele denken bei einem Ingenieurberuf vor allem an Mathematik. Aber das Rechnen ist ein kleiner Teil in der Arbeit der Ingenieure. Genauso wichtig ist die Projektabwicklung, die Kommunikation mit Projektbeteiligten, interdisziplinäres Denken und Kreativität für projektbezogene Lösungen.»
Der Frauenmangel ist aber Tatsache: «In meinem Studiengang waren von 30 Studierenden
7 Frauen – das sind relativ viele.» Im folgenden Jahr waren es lediglich 2 Frauen bei 39 Studierenden. «Ich hatte schon im Architekturbüro vorwiegend männliche Arbeitskollegen. Und auch an der BMS waren wir nur zwei Frauen in der Klasse», erinnert sich Pauli. Im Studium hatte sie nicht das Gefühl, sich gegenüber den Männern beweisen zu müssen, «aber in einem Bauunternehmen hat man als Frau zu Beginn sicher einen schwierigeren Stand».
Das mit der Jobsicherheit hat sich bewahrheitet. Eine Empfehlung ihres ehemaligen Chefs führte bereits im März zu einem Arbeitsvertrag beim Ingenieurbüro «B+S AG» in Bern, das mit 300 Mitarbeitenden an drei Standorten national präsent ist. Schwerpunkte ihrer Arbeit sind die Siedlungs- und Autobahn-Entwässerung sowie Projekte im Hochwasserschutz und bei Flussrenaturierungen. Die Zukunft lässt sie gelassen auf sich zukommen: «Ich habe gerne studiert, freue mich nun aber wieder auf die konkrete Arbeit.»
Frauenmangel in MINT-Berufen
Berufe aus den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik werden stark mit mathematischen Kenntnissen assoziiert. Obwohl Mädchen zu Beginn der Schulzeit darin häufig besser sind als die Knaben, verlieren viele das Interesse, was sich auf die Berufswahl auswirkt. Während die Quote der Frauen auf Tertiärstufe in der Architektur bei rund 45% liegt, sind es im Ingenieurwesen an den Universitäten 27,5% und an den Fachhochschulen 20%. Noch schlechter sieht es aus in der Technik und der Informatik. Die Förderung von jungen Frauen in den MINT-Bereichen treibt die Berufsverbände um, nicht zuletzt wegen des Fachkräftemangels. Die Frauensession 2021 forderte per Motion eine Parität bis 2030, was economiesuisse unterstützt, in diesem Zeitraum aber als illusorisch bezeichnet.