Mangel trotz Boom, Boom trotz Mangel

Mangel trotz Boom, Boom trotz Mangel

Der Mangel an qualifizierten Lehrpersonen trifft den Kanton Bern in besonderem Mass. Dabei sind Ausbildung sowie Beruf moderner und flexibler geworden und haben an Attraktivität gewonnen.

«Niveauverlust an Schulen befürchtet», «Lehrermangel gefährdet das Bildungssystem», «Lage in Bern ist angespannt», «Not an den Schulen ist gross». Die Schlagzeilen der vergangenen Wochen zeichnen ein düsteres Bild. Bis Mitte August, also auf den Schulstart hin, waren immer noch rund 40 Stellen unbesetzt. Beinahe das dringendere Problem ist aber: Eine grosse Zahl der Unterrichtenden verfügt über kein Lehrerdiplom und damit nicht über das didaktische oder gar fachliche Wissen, das für eine gute Vermittlung des Lernstoffs nötig ist. Es sind zum Beispiel Studierende der Pädagogischen Hochschule, die bereits vor Klassen treten, obwohl sie noch mitten im Studium sind. In manchen Fällen mussten Stellen gar mit gänzlich unqualifizierten Personen besetzt werden, etwa mit Maturandinnen und Maturanden.

Sofortmassnahmen
Am 10. August informierte Christine Häsler, Bildungs- und Kulturdirektorin des Kantons Bern, darum über die Lage zu Beginn des neuen Schuljahres. Dieses Jahr besuchen 2500 Kinder mehr die Schule als letztes Jahr. Allgemein nähmen die Schülerzahlen zu, während die geburtenstarken End-50-er Lehrerjahrgänge in Pension gingen. Sie stellte fest: «Nur dank sehr grosser Anstrengung konnten nun die allermeisten offenen Stellen auf den Schulstart hin besetzt werden.» Dies sei vor allem dem überdurchschnittlichen Einsatz der Schulleitungen und Lehrpersonen zu verdanken: Sie übernehmen zusätzliche Lektionen, springen ein, mentorieren Studierende oder schieben ihre Pensionierung hinaus. Kurz- bis mittelfristig gelte: «Die Situation wird angespannt bleiben.» Als Sofortmassnahmen beschloss ihre Direktion darum unter anderem, dass Klassenhilfen auf allen Stufen eingesetzt werden dürfen, dass die Gemeinden Schulsekretariate bei Bedarf aufstocken sollen, um Schulleitungen zu entlasten, und dass Schulen beim Administrativen, bei Sitzungen, Projekten, Veranstaltungen, aber auch bei der Weiterbildung «auf das Unverzichtbare fokussieren». Die Bildungsdirektorin bedankte sich bei allen Interessierten, die bereit sind, «sich ohne vertiefte Kenntnisse den hohen Ansprüchen des Lehrerberufs zu stellen.» Diese seien gleichzeitig aufgerufen, sich begleitend zum Einsatz als Lehrperson an den beiden pädagogischen Hochschulen IVP NMS (Institut Vorschul- und Primarstufe NMS) oder PHBern (Pädagogische Hochschule Bern) das Rüstzeug dafür zu holen. In die gleiche Kerbe schlug Pino Mangiarratti, Präsident von Bildung Bern. Beim grossflächigen Einsatz von unqualifizierten Lehrpersonen sei bestenfalls «ein Gespür für Kinder und Jugendliche da», aber das methodisch-
didaktische Wissen fehle: «Dann haben wir im Schulzimmer zwar Betreuung, aber nicht Bildung.» So appellierte auch er an die nun Aushelfenden, die Begleitangebote der PH und NMS in Anspruch zu nehmen.

Boomberuf Lehrer?
Nun kommt die gute Nachricht: Schon letztes Jahr verzeichnete die PHBern ein «Boomjahr», diesen Sommer bewegten sich die Anmeldezahlen ebenfalls auf einem hohen Niveau. Ein Teil davon ist sicher auf Corona zurückzuführen: Machte man früher ein Zwischenjahr und ging reisen, nimmt man aktuell die Ausbildung vermehrt direkt in Angriff. Mögen diese angehenden Lehrerinnen und Lehrer ihre aktuell in grosser Zahl in Pension gehenden Kolleginnen und Kollegen zu ersetzen? «Kaffeesatz lesen kann ich nicht», sagt Michael Gerber, Mediensprecher der PHBern. Faktoren wie die Pensionierungswelle oder die deutlich gestiegenen Schülerzahlen seien nicht beeinflussbar. Aber Gerber und seine Kolleginnen und Kollegen der «Lehrerschmiede» setzen alles daran, dem Lehrpersonenmangel entgegenzuhalten. Denn Lehrerin oder Lehrer ist eigentlich ein vielseitiger Beruf mit Zukunft – Kinder wird es immer geben. Mangiarratti brachte an der Medienkonferenz einige zum Schmunzeln: «Wenn ich nicht so bescheiden wäre, würde ich sagen, es ist der schönste Beruf auf der Welt.» Denn Lehrpersonen übten eine sehr sinnstiftende Arbeit aus, sagte er weiter. Ein grosser Vorteil ist zudem, dass auch Teilzeitarbeit möglich und weit verbreitet ist.

Ideal für Quereinsteiger
Um den Interessierten den Einstieg ins Schulwesen zu erleichtern, setzt die PHBern auf enge Begleitung sowie flexible Lösungen. Das Studium kann sowohl ab gymnasialer Matur oder mit einer Fachmaturität Pädagogik wie auch als Quereinsteiger in Angriff genommen werden. Wer eine Berufsausbildung mit oder ohne Berufsmatur absolviert hat, wird nach bestandener Ergänzungsprüfung zum Studium zugelassen. Ab August 2023 gibt es dank eines kürzlichen Entscheids des Grossen Rats sogar die Möglichkeit, mit einer Berufsmaturität, aber ohne Ergänzungsprüfung an der PHBern zu studieren. Ein «Lehrdiplom light» quasi, das allerdings nicht zum Bachelorabschluss führt und nur im Kanton Bern gültig sein wird. Ein weiterer Beitrag im Kampf gegen den Lehrermangel, der für die Ausbildungsstätte hoffentlich noch höhere Anmeldezahlen bedeuten wird. Für alle ihre Studierenden gibt es zudem die Möglichkeit, Teilzeit zu studieren und nebenbei noch Betreuungspflichten wahrzunehmen oder Geld zu verdienen. Rund 1000 aktuell an der PHBern Studierende haben eine Anstellung an einer Schule – auch dank ihnen ist der Lehrpersonenmangel nicht noch grösser. «Eine gute Alternative zum dreijährigen Primarstufe-Studiengang ist der studienbegleitende Berufseinstieg», sagt Gerber. Die Ausbildungszeit dauert in dieser Variante vier statt drei Jahre; in den letzten beiden Jahren unterrichtet man bereits zu rund 50%. Wegen des aktuellen Mangels an Lehrkräften gibt es sogar Studierende, die nur ein Jahr Vollzeit studierten und seither begleitend zum Studium Unterricht geben. Der Dank der Schulleitungen, der Eltern und der Politik ist ihnen sicher. Dass sie den Abschluss der Ausbildung trotzdem schaffen, ist wichtig. Gleichzeitig ist das Bildungswesen noch eine Weile auf Neu- und Quereinsteiger angewiesen.

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