«Proletarier aller Länder vereinigt euch!»

«Proletarier aller Länder vereinigt euch!»

Mit einem Gedenkanlass erinnert die Gemeinde am 5. September an eine weltgeschichtlich bedeutsame Konferenz, die vor genau 100 Jahren in Zimmerwald stattgefunden hat. Das damals verabschiedete Manifest führte einerseits zur Spaltung der sozialistischen Bewegung, andererseits aber auch zu einer Radikalisierung des Klassenkampfes. In Russland war es die Gründung der Sowjetunion und in der Schweiz der Landesstreik von 1918.

«Proletarier Europas! Mehr als ein Jahr dauert der Krieg. Millionen von Leichen bedecken die Schlachtfelder, Millionen von Menschen wurden für ihr ganzes Leben zu Krüppeln gemacht. Europa gleicht einem gigantischen Menschenschlachthaus. (…) Diesem Zustand dürfen wir nicht weiter tatenlos gegenüberstehen. (…) Unser Kampf ist der Kampf für die Freiheit, für die Völkerverbrüderung, für den Sozialismus. Es gilt, dieses Ringen um den Frieden aufzunehmen (…) Proletarier aller Länder vereinigt euch!»
Dies einige Passagen des mehrseitigen Manifests, auf das sich zwischen dem 5. und 8. September 1915 führende Sozialisten Europas anlässlich einer geheimen Konferenz in Zimmerwald geeinigt hatten. Stil und Text wirken aus heutiger Sicht ziemlich theatralisch. Aber es war ein Aufruf für Friede und Gerechtigkeit und gegen den Krieg. Was sollte daran so verwerflich sein?

Spaltung statt Einigung
Zum besseren Verständnis müssen wir uns über 100 Jahre zurückversetzen. Die Industrialisierung des ausgehenden
19. Jahrhunderts war begleitet von Ausbeutung und sozialer Not der ohne Schutz dastehenden Arbeiterschaft. Im Deutsch-Französischen Krieg (1870/1871) waren es vor allem Werktätige, die auf den Schlachtfeldern verbluteten. In diesem Kontext schlossen sich führende Sozialisten europaweit in Konferenzen (1907, 1910, 1912) zusammen. Ziel war der Sturz der «Kapitalis-
tischen Gesellschaftsordnung und Schaffung einer internationalen klassenlosen Gesellschaft». Ihr Kampf galt auch dem Krieg, den sie als Machtmittel des imperialistischen Systems sahen. Die Vereinigung der Arbeiterschaft über die Grenzen hinweg sollte stärker sein als die nationale Bindung. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914 machte die feierlich proklamierten Beschlüsse weitgehend zu Makulatur. Auch unter Sozialisten war der Nationalismus stärker als die internationale Solidarität, und erneut standen sich Arbeiter in den Schützengräben gegenüber. 1915 versuchten führende Sozialisten neutraler Länder, das internationale Proletariat in einer weiteren Konferenz wieder zusammenzuführen. Deren Vorbereitung lag in den Händen von Robert Grimm (1881–1958), Chefredaktor der «Berner Tagwacht» und späterer bernischer Regierungs- und Nationalrat. Als Tagungsort wählte er Zimmerwald.

Aufgrund der strikten Geheimhaltung waren die Zimmerwalder ahnungslos. Angemeldet in der Pension Beau-Séjour war ein «Ornithologischer Verein». Rund 40 Personen aus elf Ländern waren von Bern auf Pferdefuhrwerken angereist, darunter die beiden Russen Wladimir Iljitsch Uljanow Lenin und Leo Trotzki. Ahnungslos war auch der schweizerische Geheimdienst. Der Wirt des Tagungslokals wurde vom Belper Polizisten lediglich dafür gebüsst, weil er die Polizeistunde nicht eingehalten und es versäumt hatte, die Namen der Tagungsteilnehmer der Fremdenpolizei zu melden. Anwohner beklagten sich auch über den Nachtlärm der «Vogelkundler». Offenbar wurde sehr laut und heftig diskutiert, und vermutlich ertönte zwischendurch auch die sozialistische «Internationale». Worum es bei der Konferenz ging, wurde erst publik, nachdem in der «Berner Tagwacht» darüber berichtet wurde.
In ihrem gemeinsam verabschiedeten Manifest waren sich die Konferenzteilnehmer zwar einig über ihre Ziele, keineswegs aber über die Mittel.
Die vom feudalistischen Zarenregime Russlands geprägten Lenin und Trotzki strebten eine kommunistische Weltrevolution mittels Bürgerkriegen an, während der härteste Widersacher Lenins, Robert Grimm, sich als Schweizer Sozialdemokrat eher gewaltfreien Mitteln verpflichtet fühlte. So kam es in Zimmerwald zu einer Spaltung in Sozialisten und Kommunisten, wobei die Gruppe um Lenin von jener Robert Grimms in die Minderheit versetzt wurde. Später habe Lenin Grimm dafür als Schuft und Feigling beschimpft.

Radikalisierung des Klassenkampfes
Den Ersten Weltkrieg vermochten beide Strömungen nicht zu stoppen. Er endete erst 1918 mit der Kapitulation Deutschlands. Die Zimmerwalder Konferenz führte vielmehr zu einer Radikalisierung des sozialistischen Klassenkampfes, die sich in jedem Land etwas anders auswirkte. In Russland setzte sich das Gedankengut Lenins in der blutigen Oktoberrevolution von 1917 durch. Aus ihr entstand die kommunistische Gewaltherrschaft der Sowjetunion (1917–1991). Wichtigste Auswirkung in der Schweiz war der Landesstreik vom November 1918. Neben ideologischen Aspekten spielten dabei auch die enorme Teuerung, die tiefen Löhne und die knappe Lebensmittelversorgung eine Rolle. Der Generalstreik gilt als wichtigste gesellschaftspolitische Auseinandersetzung der Schweiz. Die Hauptforderungen des Oltener Streikkomitees um Robert Grimm tönten damals sehr provokativ. Inzwischen sind sie längst erfüllt. Dazu gehören unter anderem die Proporz-Wahl des Nationalrates, das Frauenstimm- und -wahlrecht, die 48-Stundenwoche und eine Alters- sowie Invalidenversicherung. Von bezahlten Ferien war noch keineswegs die Rede.

Zimmerwalds zweifelhafte Berühmtheit
Im ehemaligen Ostblock galt Zimmerwald als die Keimzelle der Sowjetunion und Kultort, den wegen des Ausreiseverbots aber kaum jemand aus diesen Ländern besuchen konnte. In einem Geschichtsatlas aus dem
Ersten Weltkrieg waren auf der Schweizer Karte nur gerade Genf und Zimmerwald aufgeführt. Die Gemeinde wurde während Jahren von Zuschriften überhäuft. Viele waren in Russisch und oft auch in kyrillischer Schrift abgefasst und mussten von der russischen Botschaft übersetzt werden. Da das Dorf aber bloss Ort des Geschehens und in keiner Weise in diese Konferenz involviert war, konnten die meisten Fragen nicht beantwortet werden. Oft schickte der Gemeindeschreiber einfach eine Postkarte zurück. Während Jahrzehnten waren die zutiefst bürgerlichen Zimmerwalder alles andere als glücklich, mit dem Kommunismus und dessen verheerenden Auswirkungen in Verbindung gebracht zu werden. Mit dem Abriss des sogenannten Leninhauses und dem Verbot, irgendwo eine Gedenktafel anzubringen, wurde verhindert, dass der Ort zum Mekka von Kommunisten wurde. Trotzdem ist sich die heutige Gemeinde Wald bewusst, dass im Dorf Zimmerwald einst Weltgeschichte geschrieben wurde.

Sie veranstaltet deshalb am
5. September einen schlichten Gedenkanlass, der an das weltgeschichtlich bedeutsame Ereignis vor 100 Jahren erinnert (Programm vgl. Kasten). Weitere Veranstaltungen zu diesem Thema organisiert die «Robert-Grimm-Gesellschaft» in Bern. Zudem zeigt das Regionalmuseum Schwarzwasser, Schwarzenburg, eine noch bis zum 22. November dauernde Sonderausstellung zur Zimmerwalder Konferenz und zum täglichen Leben vor
100 Jahren.

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