«Herr der Ringe», «Hobbits», «Harry Potter», magische, verwunschene und ergreifende Fantasyfilme erobern seit vielen Jahren die Leinwand. Sagen werden sozusagen auf die Bildschirme gemeisselt. «Da ist viel Mythologisches aus unseren Breitengraden dabei. Wenn man das nicht nur als Unterhaltung nimmt, kann das gute Impulse geben, um die eigenen Wurzeln zu verstehen», ist sich Andreas Sommer sicher.
Reise in die Heimat
Filme haben die Macht, Menschen zu verändern. Da tragen einige Cowboyhüte, reiten durch das Gantrischgebiet und fühlen sich ein wenig wie Clint Eastwood, da verkleiden sich andere wie im Mittelalter, auf den Spuren von Robin Hood oder King Arthur. Wiederum anderen haben es die alten Völker wie die Gallier, Germanen, Kelten oder Wikinger angetan, seit Netflix eine Fülle an Serien aus jenen Zeiten ausstrahlt. Wikinger waren nicht nur ruchlose Räuber und die christlichen Könige alles andere als Heilige. Und wie kam Andreas Sommer in diese fantastische Welt? «Den Zugang zu unserer Sagenwelt hat typischerweise in einer anderen Ecke der Welt stattgefunden», erzählt er. Sommer reiste im zarten Alter von 19 Jahren nach Südalgerien, eine Reise zu sich selbst, die ihn schliesslich zu den Tuareg führte. «Sie haben Geschichten erzählt, die eine Weltanschauung mit viel Magie und Geistern offenbarte. Ich kam an Orte, wo man nicht hingeht. Das hat mich fasziniert. Das hat mich inspiriert.» Die Berber unterscheidet nur ein Buchstabe vom Berner. Zufall? Vermutlich schon. Aber so nah wie die Wörter sind, so nah ist die Erkenntnis, dass man nicht in die Sahelzone reisen muss, um mündlich überlieferte, sagenhafte Geschichten zu finden. «Der Impuls, mich mit der Heimat zu beschäftigen, ist in der Wüste bei einem anderen Volk entstanden.»
Reise zu sich selbst
Fast wäre Sommer in Südalgerien geblieben. «Ich habe das Indigene in mir gesucht, unabhängig von dem mich umgebenden Volk, also vielleicht so etwas wie den Urschweizer», stellt er fest. Zurück in der heimischen, voralpinen Gantrischwelt findet er all die Schätze, all die Sagen und Gebräuche längst vergangener Zeiten. Anfangs dank der Hilfe von Pier Hänni. «So gelangte ich erstmals auf die Pfyffe, dort oben erzählte er mir von der Zwergenhöhle und dass man nicht wisse, wo sie sei. Bis mir das ‹Chäserenloch› auffiel», schmunzelt er. Sommer wird zum Jäger und Sammler der Sagen und Überlieferungen, schmökert sich durch die Landesbibliothek, trägt zusammen. Nach und nach entdeckt er, dass ihm viele Menschen an den Lippen hängen, sobald er zu erzählen beginnt. Aus dem Sagensammler ist ein Sagenwanderer geworden. Seine Erzählungen haben schon manch Lagerfeuer besonders lodern lassen. Und so ziehen die Jahre ins Land, gefüllt mit Sammeln, Erzählen und Schreiben. Denn vor kurzem hat er den Roman «Helisee» geschrieben. «Nach und nach entstand aber auch das Fundament für das heutige Buch.» Gesammeltes Wissen vergangener Tage, das vieles über unsere Zeit erklärt und manches Vergessene wieder erweckt. Und was fällt über all die Sagen auf? «Dass sie die Verbindung zwischen Mensch und Natur thematisieren, das Geben und Nehmen.» Die alten Völker opferten stets einige Gaben; Andreas Sommer tut es ihnen gleich und legt den Elben und Zwergen manchmal ein paar Nüsse oder Käse in den Wald, damit die alten Sagen noch lange zu ihm sprechen. Für das Buch «Mythenland» hat er alle Sagen neu geschrieben, «denn früher haben oft Lehrer und Pfarrer die Geschichten aufgeschrieben und zu ihren Zwecken moralisiert.» Eine Sage sei aber ein Schlüssel für Naturverständnis, Heimatboden und das Mythologische.
Reise in die Vergangenheit
Das Gebiet dies- und jenseits der Sense ist ein Füllhorn an Mythologie. «Hier kommt viel zusammen, das Alemannische, das Gallische, das Romanische, ein Schmelztiegel von Mythologien. Deshalb haben wir eine reiche Sagenwelt», sagt Sommer mit sanfter, fast achtvoller Stimme. Er wählt die Wörter nicht, er malt sie. Seine Sprache ist ein Spiegel der Mythologie, weil sie sich ebenfalls vieler Begriffe bedient, die wir kaum noch kennen und bald vergessen hätten. Ein Sprachriese als Erzähler. Der Sagenwanderer lacht: «Ich hatte schon immer viel Fantasie, das Erzählen wurde mir in die Wiege gelegt.» Ist er denn im falschen Jahrhundert geboren? «Als Jugendlicher dachte ich das, ja. Aber ich habe gelernt, dass früher nicht alles besser war. Klar würde ich gerne dieses Nuithonia vor 1000 Jahren anschauen gehen, ob ich bleiben würde, weiss ich aber nicht so genau.» Die heutige Gesellschaft darf dankbar sein, dass Sommer im Hier und Jetzt unter uns weilt. Was früher gut oder gar besser war, das erweckt er zu neuem Leben. «Und das sind keine äusseren Umstände, sondern Werte und Haltungsweisen, die wir heute lernen können. Demut, Respekt und Ehrfurcht vor der Natur», fasst er zusammen.
Und mit genau dieser Demut darf sich ein ganzes Gebiet auf eine Sagensammlung freuen, die so einzigartig ist wie das Land Neuthonia, in dem die Sagen entstanden sind. Andreas Sommer verwandelt sich so gesehen mythisch zum sagenhaften Schreiberling.