Bei einbrechender Dämmerung und im Kerzenschein hat Sagenerzähler Andreas Sommer seine Gäste hinab zu den Wurzeln der hiesigen Sagenüberlieferung entführt. Mit 18 Gästen war die Veranstaltung in der Barockstube aus dem 19. Jahrhundert ausverkauft. Organisiert wurde sie von der Volkshochschule Schwarzenburg, dem Naturpark Gantrisch und dem Schlossverein Schwarzenburg.
Der Sagenerzähler ging auf die verschiedenen Typen von Sagen ein, wie die Ortssage, die Frevelsage, die Schatzsage und die Armseelensage. Bei letzterer haben die Menschen aus kirchlicher Sicht gesündigt und müssen nach ihrem Tod als ruhelose Seelen «abbüssen». Sagenhaft umschrieben sind in der Gantrischregion die Personensagen vom «Zwingherr von der Grasburg» oder vom «Rappitaler» in Riggisberg. Bei Zwergensagen geht es immer um den respektvollen Umgang mit der Natur. Ist man mit den Zwergen freundlich und respektiert deren Gebote, sind uns auch die Naturgeister wohlgesinnt. Als Beispiel erzählte Sommer die Sage vom «Salzbrunnen im Sortel» mit der Fee Helva, der grossmütigen Königin der Natur mit dem ihr dienenden Zwergenvolk des Oberen Guggisberg.
Sommer erzählt vorwiegend auf Berndeutsch und benutzt bewusst alte Redewendungen, um die Verbindung zur Vergangenheit zu verstärken. Im Schwarzenburgerland gibt es die Redewendung «Hört, das Türstengejäge geht um!». Der «Türst» als wilder Jäger, der im Herbst nachts als Sturmwind umherging und das Land für das neue Jahr «säuberte». Man hütete sich, währenddessen nach draussen zu gehen.
Der Sagenerzähler lud die Teilnehmenden ein, von ihren eigenen Sagenkenntnissen zu berichten und war beeindruckt, wie viele, vor allem ältere Menschen aus der Region, aus ihrer Kindheit noch Erinnerungen an Erzählungen und Erlebnisse aus der Sagenwelt haben. Dabei konnte er einige Hinweise auf lokale Sagen und Überlieferungen aufnehmen, die er bislang nicht gekannt hatte.
Sagen – hochaktuell
Über das blosse Erzählen hinaus legte Sommer seine Sicht dar, warum dies einst ausschliesslich mündlich gepflegte Kulturerbe auch heutzutage einen wichtigen Beitrag zu leisten vermag, damit wir die Verbindung zu unseren natürlichen und kulturellen Wurzeln vertiefen und festigen können: «Sagen geben Einblick in das Weltbild unserer Vorfahren, in die Art und Weise, wie sie das Leben, ihre Umgebung und die Landschaft gesehen haben, und wie sie mit den Naturkräften umgegangen sind, von denen sie noch existenziell abhängig waren. In den Geschichten wurden viele Sachen thematisiert, die zu den grundmenschlichen Erfahrungen gehören wie Ängste, Hoffnung, Liebe, Verrat, das rechte Mass, Beziehung mit anderen Menschen und die Beziehung zu den Naturkräften. Oft erhob sich auch der Mahnfinger: ‹Soviel dürft ihr und nicht mehr!›» Gerade im Umgang mit Wasser und den verschiedenen natürlichen Ressourcen ist das auch heute hochaktuell. «Mit meinem Hintergrund als Ökologe kann ich da anknüpfen und sensibilisieren», betont Sommer.
Impuls von Tuareg-Nomaden
Andreas Sommer ist in Niederscherli und Niedermuhlern aufgewachsen und kennt das Gebiet des Naturparks wie seinen «Hosensack». Mit seiner Frau Nathalie Gähwiler und den 3 Töchtern lebt der 43-Jährige heute im Eriz, in einem Bauernhaus aus dem Jahr 1737. Nach der Matur war er Reiseleiter für Kameltrekking in der Sahara und hat nachts am Lagerfeuer die Geschichtentradition der Tuareg-Nomaden immer wieder erlebt. Das hat ihn fasziniert und gab ihm den Impuls, in der Schweiz dieser Tradition unserer Vorfahren nachzugehen. Er recherchierte Sagen, hat sie aufbereitet und erzählt sie an verschiedensten Veranstaltungen. 2009 gründete er sein Unternehmen «Anima Helvetia» (das beseelte Helvetien). Später absolvierte er ein Studium in «Environmental Education» und naturnahem Tourismus an der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHW).
Mit «Sagenhafte Wanderungen am Gantrisch» und «Helva und das Zaubernetz» hat Andreas Sommer im 2013 und 2015 je ein Buch herausgegeben. Zwischen 2010 und 2014 ist in dieser Zeitung monatlich eine Geschichte von insgeamt 45 gesammelten Sagen aus dem Naturpark Gantrisch erschienen. Schweizweite Publizität erlangte der Sagenwanderer mit der Regionalfolge der TV-Serie «SRF bi de Lüt – Wunderland» mit Nik Hartmann. Seit der Herausgabe seines ersten Buches durchstreift Sommer als Sagenwanderer mit Kursteilnehmenden verwunschene Landschaften und Orte im Naturpark Gantrisch und im Berner Oberland. Aufgrund der erfolgreichen Veranstaltung haben die Organisatoren entschieden, künftig im Halbjahresturnus den Sagenabend im Schwarzenburger Tätschdachhaus anzubieten.