Inmitten von Dunst, Rauch und Russ, erdrückenden Temperaturen und tosendem Krachen und Hämmern der Maschinen sind die Tage in der Fabrik lang und hart. Heerscharen von Arbeitern wandeln durch die riesigen, düsteren Industriehallen. Wen dieser Moloch, diese glühend heisse Vorhölle verschlingt, findet nur schwer den Weg wieder hinaus. Militärisch rau ist der Umgangston. Rau auch die Männer, deren Leben sich hier zwischen Dunstschwaden abspielt. Für den aufgeweckten Jungen aus dem bäuerlichen Seeland sind die ersten Wochen in seiner neuen Umgebung ein Kulturschock.
Auf Spurensuche
Lukas Lehmann heisst der Protagonist, der in Begerts neuem Roman «Eisensterne» zu einer Giesserlehre bei Gussmann in der Eulachstadt gezwungen wird. Natürlich ist Lukas Lehmann kein Geringerer als Roland M. Begert selbst, der sich in seinem dritten autobiografischen Roman an seine Lehre bei den Winterthurer Sulzerwerken erinnert. Schonungslos ehrlich und ohne nostalgischen Pathos. «Ich musste mir immer wieder sagen: Aufpassen! Das sind deine Erinnerungen, aber entspricht diese Wahrnehmung auch der Wahrheit?», meint er selbstkritisch. So sei er immer wieder gezwungen, seine Erinnerungen mit Fakten abzusichern. Mit Faszination begibt sich der Autor auf Spurensuche zu seinem eigenen «Fall», aber auch zu den sozialpolitischen und wirtschaftlichen Zusammenhängen der damaligen Epoche. Mit jedem entdeckten Puzzleteil wird sein Verständnis für die Situation damals grösser. Dies ist der Antrieb hinter jedem seiner Bücher – die Frage nach dem «Warum». Warum wurde er nach Winterthur geschickt? Warum wurde einfach über seinen Kopf entschieden? Dass er ohne Wenn und Aber in den Sulzerwerken landete, kann er heute verstehen. In der Industrie herrschte Hochkonjunktur, «alles, was Hände und Füsse hatte, wurde gebraucht». Die Industrie boomte, die Sozialbehörden waren froh, ihre Mündel platzieren zu können – das Interesse des einzelnen Kindes war kaum relevant.
Leben in Licht und Schatten
In «Eisensterne» geht es aber längst nicht nur um ihn als Zwangslehrling selbst. Begert interessiert sich für die Arbeiter, die Menschen und ihre Geschichten. Schattenmenschen nennt er sie. «Die Menschen, die in der Giesserei gearbeitet haben, hat man praktisch nur als Schatten gesehen in all dem Russ und dem ständigen Nebel», erinnert sich Begert.
Mit der Zeit interessierten ihn auch die Sulzerpersönlichkeiten, die Lichtgestalten. Zwei Seiten einer Medaille, Vorgesetzter und Arbeiter, die einen sind im Dunkeln, die anderen sind im Licht. Seinen Figuren, ob Schattenmensch oder Lichtgestalt, haucht er Menschlichkeit ein. «Ich will die Figuren nicht denunzieren. Ich suche in ihnen Stärken und Schwächen, denn das macht den Menschen aus.» Begert selbst entkam durch Zufall dem Dasein einer Schattenexistenz. Nach sechs Giesserei-Jahren hatte er, 23-jährig, Glück im Unglück. Wegen eines geplatzten Blinddarms hatte er im Spital drei Wochen Zeit, sich erstmals Gedanken zu machen und zu fragen: Was will ich überhaupt? «Da war klar, zurück in die Fabrik gehe ich nicht mehr», erinnert sich Begert. Von da an nahm er sein Leben selbst in die Hand.
Ohne Verbitterung
Den Bezug zu Winterthur hat er seit damals nie ganz verloren. Immer wieder führten ihn seine Wege zurück in die Stadt an der Töss. «Es geht wohl teilweise darum, meine verlorene Jugend wiederzufinden», sinniert er, «da wurde mir vieles verbaut.» Begert spricht ohne Verbitterung, das Bewusstsein um die gestohlenen Jugendjahre macht ihn eher traurig als wütend. Vieles versteht er heute; vieles kann er verzeihen. Anderen Betroffenen fällt dieser Schritt nicht leicht, sie kämpfen immer noch mit den Folgen teilweise traumatischer Erlebnisse. Bis Ende März können ehemalige Verding- und Heimkinder beim Staat Entschädigung beantragen für ihre durch Zwangsmassnahmen verlorenen Jahre. «Solche Schäden sind nicht messbar», das ist Begert bewusst. Er macht sich viel mehr für eine historische Aufarbeitung des düsteren Kapitels in der Schweizer Geschichte stark. Mit seinen Büchern leistet er seinen Beitrag, damit das Geschehene nicht ebenso im Dunst des Vergessens versinkt wie damals die Schattenmenschen.