Die strukturelle Unterdrückung der weiblichen Rolle in den vergangenen Jahrhunderten wirkt bis heute in unserer Gesellschaft nach. Obwohl auf vielen Seiten an den patriarchalischen Strukturen gerüttelt wird, trauen sich Frauen oft nach wie vor nicht, ihre wahre Stärke zu zeigen. «Unser Ziel ist es, dass Frauen den Zugang zu ihrem inneren Wissen entdecken, ihr Potential erkennen und ihre weibliche Kraft nutzen, um ihre Visionen umzusetzen», fasst Anja Gallagher das Herzensprojekt von «Wild Woman» in ein paar Worten zusammen. Dann nimmt sie einen Schluck Kaffee und stellt eine Schale mit veganer Confiserie auf den Tisch. Es ist Montagnachmittag, Gallagher und ihre Schwester Eva Syfrig treffen sich in Mamishaus, um das Seminar im Januar vorzubereiten.
Verschmelzung von Spiritualität und Wissenschaft
Gallagher und Syfrig hegen schon seit längerem die Vision, Frauen in ihrer Entfaltung zu unterstützen. Die Idee wurde mit den Jahren ihres Erfahrungsschatzes und etlichen Weiterbildungen konkreter und führte im Frühling zur Vereinsgründung von «Wild Woman». Jährlich finden vier Wochenendseminare in einer alten Villa am Thunersee statt. Unterstützt werden die Initiantinnen von externen Gastreferentinnen und von der Köchin Lisa Maria Moser, welche die Teilnehmerinnen mit pflanzlichen und vollwertigen kulinarischen Köstlichkeiten verwöhnt. In den altehrwürdigen Räumen der Villa wird gemeinsam gekocht, gegessen und in Einzel- oder Mehrbettzimmern übernachtet. Bei der Aufbereitung der Inhalte lassen sich die Schwestern von spirituellen Lehren und den Erkenntnissen aus der Forschung und Wissenschaft inspirieren. «Die Verschmelzung beider Bereiche macht es aus», sagt Gallagher überzeugt und Syfrig fügt nickend hinzu: «über die Arbeit mit dem Körper und mit bodenständigen Tatsachen holen wir die Frauen ganzheitlich und auf allen Ebenen ab.»
Das Dilemma der Frau
Ausgestattet mit weiblichen Qualitäten wie Empathie und einer starken Intuition haben die meisten Frauen das tiefe Bedürfnis, sich um andere zu kümmern. Gleichzeitig droht die Gefahr, sich durch hohe Ansprüche sich selbst gegenüber und durch den gesellschaftlichen Druck, zu verausgaben und die eigenen Bedürfnisse zurückzustellen. Unterstützt wird dieses System dabei durch unsere patriarchalisch geprägte Gesellschaft. Frauen leisten bis heute immer noch den grössten Teil der unbezahlten Sorgearbeit. Gleichzeitig sind viele teilzeiterwerbend und schmeissen nebst der Kinderbetreuung auch den Haushalt. Oft wird dies als selbstverständlich erachtet, die Mütter erfahren wenig Wertschätzung. Viele drohen bei den hohen Erwartungen, die eine Frau zu erfüllen hat, auszubrennen.
Warum muss die Prinzessin vom Prinzen gerettet werden?
Ob Vollzeitmutter oder Teilzeit erwerbend: Allem gerecht zu werden ist eine Herkulesaufgabe, weiss auch Gallagher aus eigener Erfahrung. Die Familienfrau und Körpertherapeutin hatte vor ein paar Jahren ein Burnout. «Nach meinem physischen und emotionalen Zusammenbruch begann ich, mein weibliches Selbstbild zu hinterfragen. Mir wurde klar, dass ich etwas in meinem Leben ändern will. Auch Syfrig spürte früh das Bedürfnis, sich intensiv mit dem «Frau-Sein» auseinander zu setzten. Aus beruflichen Gründen verbrachte die studierte Humangeografin viel Zeit im Ausland. «Das vorherrschende Frauenbild, welches ich besonders in den östlichen Ländern erlebte, schockierte und prägte mich nachhaltig. Auch wenn wir in der Schweiz privilegiert sind und in vielen Bereichen fortschrittlich leben, lassen auch wir uns unbewusst von alten Mustern leiten. Die klassische Rollenverteilung geschieht oft unbewusst. Warum zum Beispiel, muss in Märchen die Prinzessin immer von einem Prinzen auf dem weis-sen Ross gerettet werden? Es ist an der Zeit, dass wir die Zügel in die Hand nehmen und uns selbst retten,» Beide lachen herzhaft und degustieren genussvoll von den kleinen Tiramisu Schnitten. Es könnte der Eindruck entstehen, dass die beiden Frauen den Männern gegenüber etwas feindlich gesinnt sind. Doch dem ist nicht so – im Gegenteil, wie Gallagher deutlich entgegensetzt: «Aus unserer Sicht braucht es beide Attribute, das weibliche und das männliche. Entscheidend ist, dass wir beide am gleichen Strick ziehen und nicht in die entgegengesetzte Richtung.»