Wo wilde Ideen wuchern dürfen

Wo wilde Ideen wuchern dürfen

Seit 2013 gibt es am Fusse des Berner Hausbergs das Kulturhaus Heitere Fahne. Es bietet Raum für Begegnung, Genuss, Konzerte und Austausch. Dabei stellt das Lokal gern Normen in Frage und sprüht auch nach zehn Jahren vor Ideen und Tatendrang.

Bunte Wimpel und wild wuchernde Pflanzen, Lichterketten und Glitzer überall: An der Heitere Fahne vorbeizuspazieren, ohne den Blick neugierig über all die liebevoll schrillen Dekoelemente gleiten zu lassen, ist unmöglich. Noch unmöglicher ist es, die riesige Uhr zu übersehen, die hoch über die Terrasse hinausragt. Der Slogan «Die Uhr fickt» irritiert und dürfte wohl auch einiges an Stirnrunzeln oder Schmunzlern ausgelöst haben. Nicht umsonst steht die Uhr wie ein Mahnmal da: Einerseits blickt das inklusive Kulturlokal dieses Jahr auf eine Dekade des Bestehens zurück, andererseits weist die Uhr bereits auf das nächste Jahresthema hin – Zeit.

«Zeit ist politisch»

Die Zeit verrinnt und rennt, oft drängt sie, oft fehlt sie. Oder sind das doch nur unsere Ideen und das so präsente Leistungsdenken? In der Heitere Fahne ticken die Uhren teilweise tatsächlich anders. Dies durch täglich gelebte Inklusion, die Menschen mit all ihren Eigenheiten – und dadurch auch mit eigenen Arbeitstempi – willkommen heisst. «Es geht um unterschiedliche Zeitrealitäten», erklärt Rahel Bucher im Gespräch. Sie ist Teil des Kollektivs Frei_Raum, welches hinter dem Kulturhaus am Fusse des Gurtens steht und berichtet zusammen mit Alexandra Suter und Manon Ackermann aus dem Alltag. «Zeit ist politisch und an den Normmenschen angepasst. Das wollen wir mit dem Jahresthema unter die Lupe nehmen», führt sie aus und weist auf die sogenannte «Crip Time» hin. Damit gemeint ist die Zeit und die Geschwindigkeit, die ein Mensch, der nicht der Norm entspricht, für eine Tätigkeit benötigt. Als einfaches Beispiel mag hier die Bewältigung des Arbeitswegs dienen. Als Norm gilt gesellschaftlich der Mensch, der zu Fuss und körperlich fit unterwegs ist. Menschen im Rollstuhl brauchen für den gleichen Arbeitsweg ungleich länger, der Aufwand ist gross. Mit «Crip Time» ist genau dieser Unterschied gemeint. Doch nicht alle Abweichungen sind so gut sichtbar wie bei Rollstühlen. Und sie alle brauchen ein unterschiedliches Mass an Zeit.

Inklusion im Alltag

Als Kulturhaus hat die Heitere Fahne die Möglichkeit, auf mehreren Ebenen mit dem Zeitbegriff zu experimentieren. So will sich das Betriebsteam 2024 etwas weniger Projekte aufladen, sich für diese aber dafür mehr Zeit nehmen. «Wir haben einen riesigen Output, da etwas zurückzuschrauben kommt auch der Inklusion zu Gute», ist Bucher überzeugt. Aber was heisst denn nun Inklusion, gerade im Alltag? «Dass alle, die wollen, auch können», sagt Suter sofort und ergänzt: «Wir arbeiten hier zusammen und es ist egal, welchen Hintergrund man hat. Dazu gehört, sich auf das Gegenüber einzulassen.» Im abwechslungsreichen Alltagstrubel verwischen die Grenzen, wer wen anleitet und unterstützt. Man packt an, hilft, lernt voneinander. «Die Frage ist immer, wie kann sich die Person hier wohlfühlen und was kann sie einbringen?», beschreibt Bucher weiter. Ob Norm oder nicht, das spielt unter diesem Gesichtspunkt keine Rolle. 

Mit dem Herzen dabei

Manon Ackermann hat soeben ihre Servicelehre abgeschlossen, teils in der Heitere Fahne, teils in einem anderen Lokal. Die junge Frau ist selbstbewusst, braucht für gewisse Aufgaben länger und darf sich die Zeit nehmen. Dass ihr von Normmenschen reingeredet wird, mag sie nicht. «Ich bin 20, bin erwachsen, ich kann selber denken und machen. Ich will in meinem Tempo arbeiten können und auch den Nachhauseweg alleine machen», stellt sie klar. In die Heitere Fahne kam sie durch Zufall und ist im Team schnell angekommen. Obwohl sie im Kulturlokal nur Teilzeit arbeitet, ist sie mit ganzem Herzen mit dabei. «Heitere bleibt Heitere, ich will hier bleiben», so Ackermann, «die Arbeit ist für mich das Wichtigste.»

Balance finden

Nach zehn Jahren ist die Herzlichkeit im Betrieb immer noch zu spüren, die Leidenschaft für das gemeinsame Projekt glüht nach wie vor. Im Kollektiv ist man sich bewusst, was man alles erreicht hat; und kennt auch die Herausforderungen. Ideologie und Realität sind nicht immer einfach in Einklang zu bringen. «In der Hektik auch jemanden noch gut begleiten zu können, braucht Energie», weiss Bucher, «wie also schafft man eine Balance in einem so diversen Team, damit es auch tragfähig ist?» Suter nickt: «Man will ein Ort für alle sein, hat aber auch Grenzen. Wir sind nicht abgekoppelt von der Welt, es muss ja funktionieren.» Wie bei allen Kulturlokalen stellt sich immer wieder die Frage nach der Finanzierung und da sich in der Heitere Fahne Kultur, soziales Engagement und Gastro vermischen, ist kein Geldtopf eindeutig zuständig. Ohne Stiftungen sowie Gönnerinnen und Gönner ginge es nicht, gerade die katholische Kirche Region Bern macht durch ihre mehrjährige, sehr grosszügige Partnerschaft vieles möglich, was sonst nicht realisierbar wäre.

Trotz gewissen Sorgen: Die Heitere Fahne kann auf zehn Jahre voller Ideen, Diskussionen, familiärem Miteinander und zahlreichen Glücksmomente zurückblicken. Und nach vorne schauen auf weitere bunte Jahre: Die Nachbarschaft ist wohlgesinnt, Wabern ist lebhaft, das Fundament ist stabil, wilde Sachen haben Platz. Alexandra Suter bringt den Zukunftshunger auf den Punkt: «Ich bin richtig gespannt, was das mit uns macht.»

***

Serie zur Inklusion

Inklusion bedeutetet, dass alle Menschen dazugehören und ins gesellschaftliche Leben einbezogen werden. Zum Beispiel auch Menschen mit Behinderungen, unterschiedlichen kulturellen Hintergründen, jeglichen Alters, Geschlechts, Bildungsstands oder sozialer Schicht. Innerhalb einer Artikelserie widmen wir uns diesem Thema in verschiedenen Beiträgen.

Teilen Sie diesen Bereich

Beitrag:
«Wo wilde Ideen wuchern dürfen»

Die meistgelesenen Artikel

Kontakt

Datenupload

Der einfachste Weg uns Ihre Daten zu senden!

Werbeberatung

Schritt 1 von 2