Auch nach jahrzehntelanger Praxis als Chorleiterin leuchten ihre Augen, wenn die Bernerin Christine Guy von «ihrem» Singkreis Wabern erzählt und Musik gehört auch privat zu ihrer Leidenschaft. Trotzdem möchte die 66-Jährige künftig etwas kürzertreten und übergibt den Taktstock des Singkreises Ende 2023 in jüngere Hände. Danach dirigiert sie im «Pensionsalter» noch den Gospelchor Niederscherli und seit wenigen Wochen – sie kanns nicht lassen! – den Johannes-Chor Bern. Nach dem Auftritt mit der Matthäus-Passion im Berner Münster beschäftigt sich der Singkreis Wabern bis Ende dieses Jahres ausschliesslich mit Einsätzen in Gottesdiensten, und zwar mit hebräischen Liedern, mit populärem Schweizer Liedgut sowie mit Chorsätzen aus dem Oratorium Elias von Felix Mendelssohn Bartholdy. «Im Dezember gibts sicher noch ein offenes Chorsingen, soviel sei verraten», sagt Guy geheimnisvoll.
Abba-Konzert mit 110 Sängerinnen
Als sie 1990 den Singkreis Wabern als Chorleiterin übernahm, machten gerade mal 16 ständige Sängerinnen mit. «Manchmal mit nur einem Mann», blickt sie schmunzelnd zurück. Es sei normal, dass sich bei einem Dirigentenwechsel einige Chormitglieder verabschiedeten, um sich nicht an den «Neuen» oder die «Neue» gewöhnen zu müssen. Bald begann die Leiterin mit Projektarbeit und so glänzte der Chor im 2000 mit einem Gospelkonzert, an dem «auf einen Schlag» 40 Interessierte mitmachten. Von da an ging es aufwärts mit den Mitgliederzahlen. Beim Konzert mit den Ohrwürmern der schwedischen Gruppe Abba brachte es der Singkreis gar auf 110 Mitwirkende. Ein Rezept, Menschen in einen Chor zu bewegen, habe sie nicht, sagt sie bescheiden. Sie ist aber überzeugt, mit gezielter Projektarbeit und dem richtigen Repertoire dem heutigen Zeitgeist von Freizeit besser zu entsprechen. «Die Menschen sind mobiler geworden, wechseln Stelle und Wohnort häufiger, Beständigkeit ist nicht mehr in», sinniert Guy. «Auch wollen sich viele nicht mehr in einem Verein permanent engagieren und scheuen eine feste Anbindung. Hier kommt die zeitlich beschränkte Projektarbeit entgegen.»
Mit populärem Repertoire aus der «Unterhaltungsecke» bringe man auch Leute zum Singen, die sich nicht an klassische Werke trauten, fährt sie fort. «Nicht wenige Projekt-Sängerinnen bleiben, werden mutiger und wagen den Weg in die Klassik.» Der Arbeit mit Projekt-Mitgliedern kann Christine Guy nur Lob abgewinnen. «Sie sind motiviert und bringen meist recht gute Vorkenntnisse mit», ergänzt sie. Die temporäre Integration in den «Stammchor» des Singkreises Wabern – zurzeit 39 Mitglieder – habe nie Probleme verursacht. «Ich nehme die «Projektler» nicht bloss als Singende, sondern als Menschen wahr, merke mir ihre Namen», sagt die erfahrene Pädagogin.
In ihren Chören gibt es keine Blamageerlebnisse
Nach einem musikalischen Vorbild befragt, nennt Guy ohne zu überlegen den deutschen Dirigenten Klaus Knall, welcher die Kantoreien des Basler und Berner Münsters sowie der Zürcher Predigerkirche leitete. «Als knapp 17-Jährige trat ich der Berner Kantorei bei und Klaus Knall faszinierte mich, wie er ohne viele Worte nur mit Blick und Gestik glasklare Anweisungen gab, dass prägte mich stark», erinnert sie sich.
Diese Dirigier-Eigenschaften hat sich Christine Guy angeeignet, sehr zum Vorteil der Chor-Mitglieder. Der Schreibende durfte die menschlichen und musikalischen Fähigkeiten der Dirigentin während zehn Jahren in der Berner Liedertafel selber erleben und auch geniessen. Denn um Genuss pur – bei aller Disziplin – handelt es sich ohne Wenn und Aber. In den Chören der Musikfachfrau gilt «Je-Ka-Mi», niemand muss vorsingen, es findet keine Selektion statt. «Ich versuche, die Fähigkeiten zu fördern, arbeite mit dem, was ich bekomme. Man erhält viel zurück, wenn man den Leuten genügend Zeit gibt, sich zu entwickeln. Die Chormitglieder sollen freudig zur Probe kommen – es ist schliesslich ihre Freizeit – und die Probe mit einem Lächeln wieder verlassen», so ihr Credo.
Welche Musik hört Guy in ihrer Freizeit am liebsten? Ihre Antwort überrascht: «Alles andere als klassische Musik: Queen mit Freddie Mercury, den ich glühend verehre, David Gilmour, den ehemaligen Gitarristen von Pink Floyd, aber auch die unverwüstlichen Abba-Hits.» Die kürzlich verstorbene Rock-Ikone Tina Turner bezeichnet sie als Jahrhunderttalent. «Am meisten Musik höre ich während des Autofahrens. Da singe ich jeweils laut mit!» Auch an der Sopran-Qualität fehlt es bei Christine Guy nicht…
***
Zur Person
Christine Guy, geboren 1956, wuchs im Berner Weissenbühl-Quartier auf. Das musikalische Rüstzeug erarbeitete sie sich in drei Berufsausbildungen: Rhythmikseminar Méthode Jaques-Dalcroze in Biel und Genf, Gesang in Bern sowie Chorleitung in Genf, Bern und Zürich. Später bildete sie sich weiter in Orchesterleitung in Bern, Trier und Stuttgart. Am Konservatorium Bern unterrichtete Christine Guy während 30 Jahren Chorleitung und Stimmbildung. Sie leitete verschiedene Chöre, u.a. die Berner Liedertafel von 1989 bis 2012 und den Sinus Rhythm Inselchor von 1991 bis 2022. Den Singkreis Wabern leitet sie seit 1990. Daneben dirigiert sie heute noch den Gospelchor Niederscherli und den Johannes-Chor Bern. Christine Guy wohnt mit ihrer Partnerin in Wabern.