Wie warme Regentropfen, die nach einem glutheissen Sommertag auf trockenen Boden prasseln und ein kommendes Gewitter eröffnen, so fallen in den ersten Takten von «Ins Blaue» Klänge aus dem Nichts. Manchmal chaotisch, manchmal harmonisch, immer energiegeladen. Warm, sanft, zunehmend und mehr und mehr fordernd.
Ausserhalb der Hörgewohnheiten
Das Debütalbum von «Das Seltene Orchester» ist gewiss kein leichtes Hörvergnügen. «Wir bewegen uns ausserhalb der Hörgewohnheiten unserer Zuhörerinnen und Zuhörer», sagt Chili Romer. Zusammen mit Laura Schuler rief die junge Musikerin «Das Seltene Orchester» ins Leben. 10 weitere Profimusikerinnen und -musiker aus der Berner Jazzszene, wie etwa die Könizer Raphael Heggendorn, Nayan Stalder und Samuel Würgler, scharten die beiden Frauen um sich, begeisterten sie für ihr Projekt: eine grössere Formation als die üblichen Trios und Quartetts, aber keine Big Band. Ein Ensemble, das sich gemeinsam weiterentwickelt, aus sich selbst herauswächst, ausprobiert, mit Freude experimentiert. Kompositionen von ausserhalb? Fehlanzeige! Vielmehr kann jedes Mitglied eigene Ideen und Kompositionen in die Gruppe bringen – oder auch nur spielen, ganz nach eigenem Gusto. Mit spannendem Resultat. Wer sich Jazz verkopft, kompliziert oder elitär vorstellt, wird eines Besseren belehrt. «Es ist freier Jazz, es gibt Dissonanzen, lange Stücke», erklärt Chili Romer, «Es ist erstaunlich, wie viele Menschen sich in unsere Musik hineingeben können.» Raphael Heggendorn ergänzt: «Es braucht dafür nur etwas Mut und Zeit.» Die Rückmeldungen geben dem leidenschaftlichen Ensemble recht: Wer sich auf die Musik einlässt, entdeckt faszinierende innere Bilder und musikalische Landschaften.
Frei und kreativ
Trotzdem geht es um Wohlklang, wie die junge Saxofonistin erklärt. «Die CD ist ein schönes Beispiel für das, was wir erreicht haben. Es ging ums Aufräumen, darum zu sehen, wie die Kompositionen funktionieren.» Strukturiert, aber dennoch kreativ. Seit den Aufnahmen aus dem Frühling 2017 ist vieles passiert. «Es ist freier geworden», freut sich Romer, «man hat sich gefunden. Am Anfang gab es viele Diskussionen, stilistisch und musikalisch, wir mussten uns finden.» Als es nach den Aufnahmen zurück ins Probelokal ging, waren diese Diskussionen plötzlich wie weggefegt. Eine andere Klarheit, ein neuer Wind sei spürbar gewesen, die Energie konnte ungehindert in die Proben fliessen und nicht in zähe Diskussionen. «Die Begeisterung ist gross, alle haben Freude und es kommt viel Energie aus dem Ensemble.» Nun heisst es, diese Energie nutzen, um sichtbarer zu werden und sich weiterzuentwickeln. Die Qualität soll sich weiter steigern, «Das Seltene Orchester» will dranbleiben und gemeinsam weitergehen. Raphael Heggendorn: «Der Prozess ist noch lange nicht zu Ende. Doch jetzt ist es an der Zeit, erste kleinere Ernten einzubringen. Die Musik muss nun an ein grösseres Publikum gelangen und weitere Freunde finden.»
Nährende Momente
Zeit und Lust auf eine lange Zusammenarbeit haben auf jeden Fall alle 12 Musikerinnen und Musiker. Man kennt sich gut genug, um zu wissen, was man sich zutrauen kann und was man aneinander hat. So lassen sich auch Herausforderungen, wie etwa diejenige nach ausreichend finanziellen Mitteln, gemeinsam meistern. Gute Voraussetzungen also für eine lange und solide Beziehung. «Frei improvisierte Musik ist für uns ein Sinnbild für eine Gesellschaft, wie wir sie uns wünschen», so Chili Romer, «Jeder tut, was er für wichtig und richtig hält, aber mit der grösstmöglichen Aufmerksamkeit für das, was rund um ihn herum geschieht, und mit einem maximalen Fokus auf das Gelingen des Ganzen.» Stehen also Philosophie und Gesellschaftskritik auch auf dem Programm von «Das Seltene Orchester»? Musik sei eine Notwendigkeit wie andere Kunstformen auch und als solche ebenfalls eine Form der Poesie, ist sich Romer sicher. Aber im Vordergrund steht die Spiel- und Entdeckungsfreude. «Musik soll nährend sein, unsere Musik bietet viel an und lebt von starken, zuweilen auch chaotischen Momenten», so Romer. In näherer Zukunft sind diese starken Momente für die Hörerschaft in erster Linie ab CD erlebbar, nächstes Jahr geht es wieder auf Tour. Nicht mehr wie bisher in kleinen Underground-Lokalen, sondern hoffentlich auch in bekannteren Konzertlocations. Mit der Plattentaufe von «Ins Blaue» in den Vidmarhallen im April ist dazu auf jeden Fall ein guter Auftakt geglückt.