«Dieses Bewusstsein will ich herauskitzeln»

«Dieses Bewusstsein will ich herauskitzeln»

Das Theater Gurten feiert im Sommer ein Doppeljubiläum: Das 20-jährige Bestehen sowie Livia Anne Richards 10. Inszenierung. Über 160'000 Zuschauerinnen und Zuschauer haben ihre Stücke bisher gesehen.

«flöört.ch – Flirten lernen in 90 Minuten» steht auf dem riesigen Plakat an der Seftigenstrasse. Was für den einen nach Rettung und für die andere nach einer neuen Dating-Seite klingt, ist der Titel von Livia Anne Richards neuem Stück, das am 22. Juni Premiere feiert. Die Idee dazu habe einen oberflächlicheren und einen tieferen Grund. «Während der Pandemie wusste keiner mehr, wie man sich begrüssen soll. Die drei Küsschen, das ‹Heiligtum› in der Schweiz, sind aber wohl Geschichte», meint die Regisseurin und fährt fort: «Der Flirtfaktor ist mit den Masken ins Bodenlose gefallen. In ihrem Umfeld habe sie viele Singles, für die es eine schwierige Zeit gewesen sei. Blickkontakt und freundlich anlächeln ist nun aber auch über die Corona-Zeit hinaus ein «Chnorz» geworden, vom Flirten ganz zu schweigen «Die Verunsicherung auf beiden Seiten ist gross, was heutzutage überhaupt noch erwünscht ist», erklärt sie. Aber gerade dieser «Chnorz» hat ein unglaubliches Potenzial für Komik. «Im Stück müssen die Flirtwilligen Übungen machen», erzählt Richard und ergänzt lachend: «Wir stehen bekanntlich nicht gerade an der Weltspitze, wenn es ums Flirten geht.» Das sei aber nur die eine, oberflächlichere Perspektive auf die Gesellschaft.

Die andere ist: In den letzten drei Jahren hat die Autorin sich intensiv mit dem LGBTIQ-Spektrum auseinandergesetzt: «Die Recherchen für meine Roman-Trilogie, in der eine Figur aus dem Spektrum kommt, haben quasi als Nebenprodukt meinem Theaterstück Tiefe und zusätzlichen Sinn gegeben.» Der Flirtkurs sei nämlich zu Beginn konservativ aufgebaut. Der Horizont des Flirt-Coaches ist: «Manne flöörte mit Froue u umgekehrt, wobii der Maa vorusgeit.» Nach rund 10 Minuten «jagt’s ere Teilnähmerin der Zapfe ab» und sie fragt, ob es den ganzen Abend nach dem Motto «Ich Tarzan – du Jane» weitergehen solle. Schliesslich gäbe es auch Menschen, die mit dem gleichen Geschlecht oder beiden flirten wollen. «Das ist der Punkt, an dem das Stück einen zusätzlichen Dreh bekommt. Wo es in die Tiefe geht und die Frage aufkommt: ‹Was ist eigentlich der Mensch?›, so Richard. Laut Biologen gibt es ungefähr 22’000 verschiedene «Sorten» von Menschen, keine Standard-Modelle. Jeder sei ein unikates Gemisch von männlichen und weiblichen Anteilen. «Bei der Geburt kategorisieren wir anhand von primären Geschlechtsmerkmalen, dann gehört man sein Leben lang in die weibliche oder in die männliche Box. Das wird unserer Artenvielfalt nicht gerecht», zeigt sich Richard überzeugt. Und bei der sexuellen Ausrichtung sei es ganz genau dasselbe. Nun gebe es heutzutage zusätzliche Boxen, das «L» für lesbisch, das «G» für Gay, das «B» für Bi, das «T» für Transgender, das «I» für Intergeschlechtlich und das «Q» für Queer und somit für alle weiteren Menschen, die in irgendeiner Weise nicht der «Norm» entsprechen. «Und darunter gehen immer weitere Böxli auf. Der Mensch ist nicht in der Lage zu akzeptieren, dass wir alle einfach Menschen sind. Wir müssen alles labeln: Unser Drang, im Chaos der Natur Ordnung zu schaffen, bringt viel Intoleranz in die Welt. Solchen Themen geht das Stück nach», macht sie deutlich. Es geht auch darum, dass ein sogenannter «normaler» heterosexueller Mann heute verunsichert ist. Was darf er noch tun und sagen? «Er hat immer das Gefühl, mit einem Fuss im ‹MeToo› zu stehen.» Mit «flöört.ch» habe sich die Regisseurin selbst eine Steilvorlage vor die Füsse gespielt, menschliche Unzulänglichkeiten in Sachen alten Denkmustern aufzuwühlen. «Ein Biotop, auf dessen Grund es mehr gibt als das, was unser lieber Flirtcoach meint», verrät sie. «Die Welt ist ein fantasievoller, ein farbiger Ort und das ist gut so. Dieses Bewusstsein will ich herauskitzeln», macht Richard deutlich. Das Thema sei reif, um sichtbar zu werden, und müsse gesellschaftsfähig werden. Sie selbst engagiert sich, weil sie es als heterosexuelle Frau einfach hat: «Ich muss mich nie erklären. Alle queeren Menschen, mit denen ich geredet habe, mussten sich ihr Leben lang rechtfertigen. Es gibt noch viel zu tun. Ich träume von einer Welt, in der man den Begriff ‹Coming-out› aus dem Wortschatz streichen kann. Er impliziert ja schon, dass ein Mensch ein ‹Geheimnis› hat, das ihn zum ‹Sonderfall› macht. Wir müssen die Norm der Natur anpassen und nicht umgekehrt.

«Es geht mir aber nicht rein um Genderidentität oder sexuelle Ausrichtung, sondern um die Etikettierung im Allgemeinen. Wir müssen damit aufhören, uns über «Boxen» zu definieren, und alle anderen, die nicht darin sind, als fremd, minderwertig oder gar abartig anzuschauen. Am Ende sind wir alle Menschen und das Universum will sich in uns als genau das, was wir sind, ausprobieren.» Bedenken, wie das Stück ankommt, hat sie nicht: «Das Publikum ist es gewohnt, dass in meinen Werken immer ein bisschen mehr drin ist als das. was draufsteht. Und in erster Linie ist es einfach ein vergnüglicher Theaterabend.» Die Vorverkaufszahlen sprechen für sich. Sie sind jetzt schon höher als 2018 um die gleiche Zeit bei «Abefahre!». Abschliessend sagt Richard: «Es ist wichtig, dass man in diesen Zeiten vergessen und lachen kann. Es ist aber auch schön, wenn der eine oder die andere am Ende des Abends etwas verstanden hat. Von mir aus gern lachend.»

INFO:
www.theatergurten.ch

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