«Ein Kreischen erklingt über uns, und ich zucke zusammen. Ich sehe nach oben, wo ein grosser weisser Vogel über mir schwebt. Eine Möwe. Noch nie habe ich an diesem Himmel Möwen gesehen. Sie gehören nicht hierher, ich bleibe stehen, sehe in das tiefe Blau neben mir (…) Meine Kehle schnürt sich zu. Dort unten, tief unter dem Schiffenensee begraben, liegen die Spuren meiner Kindheit.» Diese Textpassage stammt aus dem Prolog der kürzlich erschienenen Erzählung «Unter dem Schiffenensee». Darin schildert die junge Autorin Michelle Peyer einfühlsam, wie die fiktive Bauerntochter Maria, «Meieli» genannt, im ehemaligen Saanetal nahe von Bad Bonn aufwächst. Zwecks Energiegewinnung wurden dort 1960 bis 1963 eine Bogenstaumauer und ein Wasserkraftwerk errichtet, um in der Stromversorgung unabhängig zu werden. Und um den wachsenden Energiebedarf zu stillen.
Trotz Widerstand eingeweiht
4 Jahre blieben den Bewohnern, danach wurde das 13,5 km lange Tal mit 65 Millionen Kubikmetern Wasser geflutet. Das Projekt bedeutete immerhin den Verlust von rund 400 Hektaren an bewohntem und bewirtschaftetem Land; Bauernhäuser wurden abgerissen, der Kurort Bad Bonn sowie ein Kieswerk am nördlichen Ende des Tals sogar gesprengt. Zwar wurden die Besitzer entschädigt, doch das Geld reichte kaum, um sich andernorts eine neue Existenz aufzubauen. Mitunter führte dies zu heftigen Streitigkeiten. Doch allem Widerstand zum Trotz konnte das Wasserkraftwerk Schiffenen im September 1964 eingeweiht werden.
Wirklichkeit und Fantasie
Die Geschichte spielt während den 4 Jahren, in denen die Staumauer entstand, und thematisiert dabei die Frage: Wie kommt Meieli mit dem bevorstehenden Heimatverlust sowie mit dem Erwachsenwerden zurecht? Die Autorin hat es verstanden, die damalige Wirklichkeit geschickt mit der ihrer Fantasie entsprungenen Geschichte und deren Protagonisten zu verweben – kein historischer Text also, sondern eine literarische Erzählung. Vor allem ein Werk war der Maturandin bei ihrer Recherche eine grosse Hilfe: «Schiffenensee – Das versunkene Saanetal», herausgegeben vom Verein O.S.K.A.R, der Sport-, Kultur- und andere Anlässe in der Region fördert. Dokumentiert wird in diesem Buch in Wort und Bild die Zeit vor und während des Baus der Staumauer. Ein neu gebildetes Projektteam wurde sich einig: Michelle Peyers Maturaarbeit sollte vom Verein ebenfalls als Buch herausgebracht werden. «Zu viert arbeiteten wir ein halbes Jahr lang daran und halten heute das gedruckte Buch ‹Unter dem Schiffenensee› in der Hand», so die Autorin. Dies namentlich auch dank Christoph Wüthrich vom Vorstand O.S.K.A.R. und Hubert Dietrich, Vereinsgründer und ehemaliger Präsident. Zum Werk sagt er: «Beim Lesen fühlte ich mich schon nach den ersten Zeilen in die Zeit vor der Stauung des Saanetals versetzt.»
In eine andere Zeit versetzt
Wie kam die 2001 in Biel geborene und in Laupen aufgewachsene Michelle Peyer zum Schreiben? Aufsätze mochte sie seit ihren ersten Schultagen, später zog sie für kurze Zeit sogar den Beruf als Schriftstellerin in Erwägung. «Ich war stets gerne in der Natur unterwegs – zu Fuss, joggend oder auf dem Fahrrad. Dies führte mich auch immer wieder an den Schiffenen-Stausee, den ich schliesslich zum Thema meiner Maturaarbeit machen wollte», so die heute 19-Jährige. «In meinem vorletzten Jahr am Gymnasium Kirchenfeld in Bern ergriff ich dann die Gelegenheit, ein grösseres Schreibprojekt als Maturaarbeit zu verwirklichen.» Der Reiz beim Schreiben war für sie, sich in eine andere Zeit zu versetzen und dort ihre eigenen Figuren zu erschaffen. Dabei setzte sie sich jedoch Grenzen, nämlich die des historischen Hintergrunds. «Nicht nur diese Ereignisse, sondern auch das Gespür für die Zeit wollte ich durch Sprache und Verhalten der Figuren vermitteln», so Michelle Peyer. Mittlerweile hat sie an der ETH Zürich ein Architekturstudium begonnen. «Das Schreiben liegt mir nach wie vor am Herzen, und ich hoffe, eines Tages eine weitere Geschichte schreiben zu können. Wer weiss, vielleicht wird sie dann sogar noch etwas länger.» Doch jetzt geht es vorerst darum, Leserinnen und Leser für ihr Erstlingswerk über die Schiffenen-Staumauer und das versunkene Saanetal zu finden.