Expertin aus Erfahrung

Expertin aus Erfahrung

Starke Gefühlsausbrüche haben sich wie ein roter Faden durch das Leben von Stephanie Wenger gezogen. In ihrem Buch «Mittelweg» schreibt sie über ihr Leben mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Damit will sie mit Tabus brechen, aufklären und Betroffenen Mut machen.

Stephanie Wenger sitzt bei einer Tasse Kaffee am Tisch in ihrem Wohnzimmer. Zusammen mit ihrem Partner und zwei Katzen lebt sie im obersten Stock in einem Mehrfamilienhaus in Schliern. Die Dachwohnung ist ein wichtiger Rückzugsort, denn die 34-Jährige braucht viel Zeit für sich, um neue Energie zu tanken. «Fachleute sagen, Menschen mit einer Borderline-Störung empfinden Gefühle, ob einfache oder schwierige, etwa neunmal intensiver als gesunde Menschen.» Auch die Stresstoleranz weicht ab: «Während gesunde Menschen am Morgen mit einer Anspannung von ca. 10 % den Tag starten, sind es bei den Borderlinern bereits 30 %. Normal wäre, dass dieser Pegel im Verlaufe des Tages abwechslungsweise steigt und sinkt. Doch bei mir stieg dieser konstant nach oben, bis ich am Ende des Tages völlig erschöpft war», beschreibt Wenger ihre Krankheit.

Schatten ihrer selbst

Seit ihrem 14. Lebensjahr leidet die Autorin und Songwriterin an depressiven Episoden. In Hinterkappelen aufgewachsen zog es die junge Frau schon früh aus dem Elternhaus. Mit 18 Jahren bezog sie ein Zimmer im Personalhaus des Inselspitals und startete ihre Ausbildung zur Pflegefachfrau. Doch auf ihr lastete ein schwerer Schatten, der sie immer wieder in ein tiefes Loch zog. Im dritten Lehrjahr spitzte sich die Situation zu. Die Lernende verletzte sich über längere Zeit selbst, um sich vom emotionalen Schmerz zu befreien. Nach einem Selbstmordversuch erfolgte ein fürsorgerischer Freiheitsentzug in einer Klinik, wo sie eine Psychotherapie machte. Aus anfänglich drei geplanten Monaten wurden sechs und schlussendlich brach Wenger ihre Ausbildung ab. 

Achtsamer Umgang 

mit Gefühlen

Dank der intensiven Auseinandersetzung mit ihrer psychischen Erkrankung fand Wenger Wege, mit ihrer Krankheit umzugehen. Sie machte eine kaufmännische Ausbildung und eine Weiterbildung im Marketing und arbeitete erfolgreich in diesem Bereich. Trotz mehrerer Vorfälle und einigen weiteren Kurzaufenthalten in der Klinik konnte sie im Leben Fuss fassen. Neben vielen Skills, die sie im Verlaufe der Therapie erlernt hat, sei Achtsamkeit ihr wichtigstes Werkzeug im Alltag. «Es ist möglich zu lernen, wie man die starken Handlungsimpulse kontrolliert. Gefühle wahrzunehmen ist wichtig, denn diese sind immer berechtigt. Aber es geht darum zu lernen, wie wir verhindern können, dass wir uns von ihnen überwältigen lassen», erklärt Wenger. Auslöser einer Borderline-Störung sind vielfältig. Ursachen können eine genetische Hochsensibilität, emotionale Vernachlässigung oder traumatische frühkindliche Erlebnisse sein. Bei Wenger war es ein Missbrauch in ihrer frühen Jugend, der ihr jedoch nicht als solcher bewusst war. «Erst später in der Therapie kamen die Erinnerungen hoch und ich hatte die Gelegenheit dieses unbewusste Trauma zu verarbeiten.»

Aktivistin für 

mentale Gesundheit

Nach 20 Jahren Erfahrung ist Wenger krisenerprobt und weiss um den grossen Leidensdruck Betroffener. So entstand die Idee, ihr Erlebtes in einem Buch festzuhalten. «Die Reaktionen auf das Buch waren überwältigend», sagt die Autorin. Sie wurde an Lesungen eingeladen und erhielt Anfragen zur Begleitung von Betroffenen. «Mir wurde bewusst, dass ich mich entscheiden muss, für was ich meine Energie in Zukunft investieren will. Mit meiner Aufklärungsarbeit möchte ich die Leidenszeit von anderen Betroffenen verkürzen.» Wenger kündigte ihren Job und machte sich selbstständig. Die Begleitung von Menschen in akuten Krisen sowie die Vermittlung zwischen Angehörigen und Fachpersonen ist für die Schliernerin eine Herzensangelegenheit. So auch ihr Projekt «Musig für Di», bei dem sie für Menschen individuelle und persönliche Kraftlieder und Balladen in Mundart schreibt und singt.

«Heute bin ich dankbar für meine Erfahrungen. Das heisst nicht, dass ich gutheisse, was alles passiert ist. Doch alles hat seinen Sinn und diesen habe ich durch meine Krankheit erkannt», sagt die leidenschaftliche Sängerin. Ihre grosse Entschlossenheit und Energie, die sie ausstrahlt, lässt vermuten, dass sie alles auf eine Karte setzt. «Das ist richtig», sagt Wenger, lacht herzhaft und nimmt den letzten Schluck Kaffee: «Ehrlich gesagt gibt es keinen Plan B.»

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