Jeder Mensch kann tanzen

Jeder Mensch kann tanzen

Die Gruppe BewegGrund setzt sich seit 25 Jahren für Inklusion in der Tanzszene ein. Obwohl heute das Bewusstsein für die Thematik höher ist, stehen wichtige Schritte noch aus. Am «BewegGrund.Das Festival» war die Vielfalt so selbstverständlich, wie sie auch gesellschaftlich sein könnte.

Nach den langen und nassgrauen Regenwochen im Mai ist er endlich da: der erste lauschige Sommerabend. Auf der Terrasse der «Heitere Fahne» in Wabern summt und vibriert das Leben, man plaudert, lacht, freut sich an Begegnung und Austausch. Begegnung und Austausch, das steht auch später im Grossen Saal des Kulturlokals im Fokus. Auf dem Parkett kommen an diesem ersten Festivalabend vier Menschen zusammen. Menschen, die sich im Vorfeld nie getroffen haben und unterschiedlicher nicht sein könnten, die sich aber durch ihre gemeinsame Freude an Bewegung und Ausdruck in einer poetischen und spielerischen Choreografie finden. Das Tanzstück Bailes Extraños von Rita Noutel und José Maldonado ist jedes Mal neu, anders, improvisiert. In der «Heitere Fahne» begegnet das Tanzduo zum ersten Mal der Tänzerin Maira Nett und dem Musiker Nicolas Perrin. Spielerisch leicht und mit ausdrucksvoll ästhetischen Bildern skizzieren die drei Tanzenden und der Musiker eine Welt, in der man mit Neugier aufeinander zugeht und Besonderheiten der anderen akzeptiert – und diese einbaut, statt ausschliesst. Wie etwa den Rollstuhl von Tänzerin Rita Noutel.

Steigendes Bewusstsein

«Kultur könnte ein Abbild der Gesellschaft sein», erklärt Susanne Schneider. Sie ist künstlerische Leiterin und Mitarbeiterin der Tanzgruppe BewegGrund. Seit 25 Jahren setzt sie sich für mehr Inklusion im Tanz ein, seit über zwanzig Jahren organisiert sie BewegGrund. Das Festival mit inklusiven Tanzperformances aus aller Welt, Workshops und Austausch. Ein Vierteljahrhundert ist es her, seit sie die Tanzcompagnie ins Leben gerufen hat, nachdem sie während ihrer Tanzausbildung in England ein inklusiv arbeitendes Ensemble auf der Bühne gesehen hatte. Susanne Schneider fing sofort Feuer. «Mit dieser Vielfalt, mit dieser Bandbreite kommen wir viel näher ans Leben. Auch die künstlerischen Möglichkeiten sind spannend», schwärmt sie noch heute. Doch stehe man gesellschaftlich und kulturell noch nicht an dem Punkt, den sie sich erhoffen würde. Diversität sei ein grosses Schlagwort aktuell und das Bewusstsein sei zwar gestiegen, aber das sei noch lange nicht genug. «Wir dachten, irgendwann sind wir überflüssig», schmunzelt sie. 

Wenig Vorbilder

Entsprechend gross ist die Ernüchterung, wenn inklusive Tanzprojekte immer noch als etwas Besonderes betrachtet werden. Zwar werden inklusive Projekte immer öfter programmiert, aber Inklusion, gerade auch in der Kultur, sollte umfassender gedacht werden. Doch da stösst man strukturell immer wieder an Grenzen. «Für Tanzende mit Behinderungen gibt es praktisch keine Ausbildungsplätze», weiss Susanne Schneider. Das liege daran, dass gerade im Tanz nach wie vor Normen und Schönheitsideale vorherrschen. Aber es stellen sich auch finanzielle oder bauliche Fragen. Und immer wieder fehlt es an Vorbildern. «Je mehr Menschen mit Behinderungen auf der Bühne präsent sind, umso mehr ist auch die Idee da, dass man das selber auch könnte. Es ist eine Frage der Repräsentation», ist Susanne Schneider überzeugt. Dass auch Menschen mit Behinderungen Raum auf der Bühne erhalten sollen, hat auch mit Ermächtigung zu tun. «Wir zeigen selbstbewusste und starke Persönlichkeiten», gibt Susanne Schneider Einblick. Wer etwa eine sichtbare Behinderung habe oder im Rollstuhl unterwegs sei, der sei auch im Alltag ständig Blicken ausgesetzt und am Performen. Mit dem Schritt auf die Bühne lasse sich der Blick umkehren und eine gewisse Kontrolle zurückgewinnen.

Blick für die Möglichkeiten

Das Ziel für BewegGrund ist klar: ein selbstverständliches Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderungen in kulturellen Projekten. «Wir passen in keine Schublade», macht Susanne Schneider klar. Von den meisten Bühnenkünstlerinnen und -künstlern, mit welchen sie zusammenarbeitet, wisse sie keine Diagnose. Der Fokus liegt viel mehr auf dem, was möglich ist, als darauf, was fehlt. «Die Kreation ist immer der gleiche Prozess. Sorgfalt und genaues Hinhören, was die Leute brauchen sind enorm wichtig. Wir müssen jedes Mal neu herausfinden, wie wir zusammenarbeiten wollen», erklärt die künstlerische Leiterin weiter. Für die Zukunft wünscht sie sich, dass gerade in der reichen Schweiz klarere Schritte unternommen werden, etwa mit barrierefreien Bauen. Und auch wenn es viel Geduld braucht und die Inklusion in der Gesellschaft noch längst nicht dort ist, wo sie sein könnte, bleibt Susanne Schneider optimistisch: «Die Freude und Lust an diesen tollen Begegnungen und am Schaffen überwiegen.»

INFO:

www.beweggrund.org 

www.integrart.ch 

 

Serie zur Inklusion

Inklusion bedeutetet, dass alle Menschen dazu gehören und ins gesellschaftliche Leben einbezogen werden. Vor allem auch Menschen mit Behinderungen. Innerhalb einer Artikelserie widmen wir uns in den nächsten Monaten diesem Thema in verschiedenen Beiträgen. Der Einstieg macht das BewegGrund-Festival, das inklusive Tanzprojekte und Inklusion in der Kultur fördert.

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