Fiona* ist 14-jährig, als sie nach Guggisberg kommt. Sie wächst Zuhause gemeinsam mit acht Geschwistern auf. Der Vater, Alkoholiker, verlässt die Familie, die Mutter lernt einen neuen Partner kennen, der weitere Kinder in die Beziehung einbringt. Die Mutter ist in allen Belangen überfordert, trennt sich bald wieder vom Partner. Alle Kinder aus Fionas Familie werden fremdplatziert. Die letzten sechs Jahre ihres noch jungen Lebens verbringt Fiona in drei verschiedenen Heimen, Wurzeln schlagen kann sie nirgends. Die Jugendbehörden ihres Kantons überweisen sie schliesslich nach Guggisberg.
«Was wird aus mir?»
Als ob das Leben nicht schon so hart genug wäre, kommt Fiona in die Pubertät. Und mit diesem Lebensabschnitt beginnen auch die grossen Zweifel, weil Selbstsicherheit ein Fremdwort für sie ist. Die Angst vor ihrer Zukunft ist riesig, droht, das Mädchen zu ersticken. «Was soll bloss aus mir werden? Werde ich so wie Mama enden? Kann ich jemals ein normales Leben führen? Bin ich überhaupt beziehungsfähig?» Diese und ähnliche Fragen plagen Fiona. Jeden Tag. Jede Nacht. Es ist ein Teufelskreis.
Die Geschichte um Fiona ist nur ein Beispiel unter vielen von maximal 14 Jugendlichen, die in der WG-Guggisberg 77B betreut und begleitet werden. Und zwar sehr intensiv betreut werden. Die Teenager – die meisten kommen zwischen dem 13. und 15. Lebensjahr ins Bärnbiet – werden von den offiziellen Stellen der Kantonalen Sozialdienste oder der Jugendanwaltschaft zugewiesen, und zwar nie direkt aus den Familien heraus. Die Buben und Mädchen haben also bereits Heim-
erfahrungen hinter sich, wenn sie nach Guggisberg kommen.
Eine Lanze brechen für die KESB
Eine der zuweisenden Stellen ist die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde KESB, die in letzter Zeit für negative Schlagzeilen sorgte. Rolf Küng, Gesamtleiter der WG-Guggisberg 77B, hat ebenfalls seine Erfahrungen mit der KESB gemacht, durchwegs… gute: «Ich erlebe die Verantwortlichen als sehr pflichtbewusst und als sorgfältig arbeitend. Jemandem die Obhut zu entziehen, das entscheidet sich nicht mit Kopf oder Zahl nach einem Münzenwurf.» Es sei auch «sehr einfach» von aussen, im Nachhinein, und ohne genaue Kenntnisse eines Falles, Kritik an einzelnen Entscheiden der KESB zu üben. «Als ob es Menschen gäbe, die nie Fehler machen», meint Rolf Küng nachdenklich.
Zurück in die WG 77B. Der komisch anmutende Name stammt übrigens von der Strassennummer der Wohngemeinschaft der Jugendlichen, der seit einigen Jahren die «Alte Mühle» in 70B, der Administration, Schule und Werkstatt angegliedert sind, jenem Haus, das mit «Daheim» an der Fassade angeschrieben ist. Im Moment werden elf Jugendliche aus der ganzen Schweiz betreut, zum Teil in der Wohngemeinschaft an der Dorfstrasse 77B (sieben Bewohnende), bei insgesamt fünf Partnerfamilien aus Guggisberg (zurzeit drei) oder begleitetem Wohnen ausserhalb der Gemeinde, wo heute eine junge Frau ihr Zuhause hat.
Von Wiesen und Kühen
Rolf Küng gibt sich offen und ehrlich: «Die Jugendlichen sind alles andere als begeistert, wenn sie zu uns kommen, in Guggisberg findet schliesslich nicht das pulsierende Leben statt. Zuerst sehen sie bloss Hügel, Wiesen und Kühe.» Ist man also abseits des Lebens? Rolf Küng: «Man mag das vorerst so sehen, aber hier können die Jugendlichen zur Ruhe finden, sich an die Strukturen eines normalen Alltags gewöhnen, sich langsam wieder ans eigentliche Leben herantasten.» Die ganze Institution ist im kleinen Dorf gut integriert, man achtet und respektiert sich gegenseitig. Und wenn es doch einmal zu eher Unerfreulichem kommt, «dann wissen wir es meistens, bevor der Jugendliche überhaupt wieder bei uns ist».
Strenge Massstäbe
«Jede und jeder hat eine eigene Lebensgeschichte, die aber eine Gemeinsamkeit aufweist: Die Jugendlichen haben alle einen besonderen Charakter und schwierige Startbedingungen für ihr Leben, benötigen deshalb massive Unterstützung und Betreuung, damit sie den Weg in einen normalen Alltag finden», sagt Rolf Küng. Die WG 77B ist deshalb keine «Friede, Freude, Eierkuchen»-Institution, wo jeder gerade das machen kann, wozu er/sie Lust hat. Die Auflagen im Alltag sind streng, zuweilen gar einschneidend, wenn man sich nicht daran hält. Dafür – und für den gewöhnlichen Alltag in der Schule oder in der Werkstatt – sorgen insgesamt 15 Sozial-, Schul- und Arbeitspädagogen. Womit auch klar ist: Die WG 77B kann eine sehr individuelle Betreuung und Begleitung sicherstellen.
Was ist das Ziel der WG 77B? «Es geht darum, dass die Jugend-
lichen die Schule abschliessen, die sie mit ganz wenigen Ausnahmen bei uns intern besuchen, um sich dann an eine Ausbildung heranzutasten, die ihnen ein späteres Leben in Eigenständigkeit bietet.» 80% schliessen die Schulausbildung ab, schwieriger ist jedoch der anschliessende Einstieg in ein Praktikum, eine Lehre, das Jobben. Erfreulich in diesem Zusammenhang ist, dass nicht bloss die bereits erwähnten Partner-
familien, die einen Jugendlichen aufnehmen, sehr offen für die Institution sind, sondern auch mögliche Arbeitgeber in der Region, die immer wieder versuchen, die Teenager an die eigentliche Arbeitswelt heranzuführen, selbstverständlich eng von Fachleuten aus der WG 77B begleitet.
Wirtschaftsfaktor
Die WG-Guggisberg 77B ist als private GmbH offen am Markt tätig, muss also ihre Leistung und den Leistungsausweis erbringen, will sie weiterhin zum Wohl der Jugendlichen – und somit unserer Gesellschaft – tätig sein. Dank dieser Gesellschaftsform kann sie sofort auf neue Herausforderungen reagieren. Sie ist, so gesehen, auch ein kleiner Wirtschaftsfaktor im Dorf: Arbeitsplätze werden geboten, für Handwerkliches verpflichtet man lokale Fachleute oder aus der unmittelbaren Region, die Lebensmittel kauft man regional ein. Die «77B» erhält keine staatlichen Subventionen, sie finanziert sich einzig durch die gesprochenen Taggelder der zuweisenden Instanzen.
Apropos Einnahmen: Mit welchem Geld finanzieren die Jugendlichen ihren Alltag, ihre Handy-Rechnungen? Rolf Küng: «Ab der achten Klasse arbeiten die Jugendlichen neben der Schule in einem internen Arbeitsprojekt. Sie erhalten einen Projektlohn und können den grössten Teil ihrer Auslagen mit selbstverdientem Geld decken. Die hergestellten Produkte werden zum Beispiel an der «Schafscheid» oder bei anderen Gelegenheiten verkauft. Von der Gemeinde haben wir den Auftrag erhalten, die Wanderwege zu unterhalten, auch da fällt für die Jugendlichen etwas ab.»
Hohe Sozialkompetenz
Der bereits einige Male verwendete Ausdruck «Begleitung» ist eigentlich falsch gewählt, die Betreuung umfasst mehr als bloss die Begleitung. «Wir müssen in enger und persönlicher Beziehung zu diesen jungen Menschen bleiben, ihnen nicht bloss oberflächlich zu helfen versuchen. Mehr als alles andere müssen wir sie jedoch motivieren, immer wieder. Täglich aufzeigen, dass es einen Weg aus ihrer Situation gibt.» Dies ist umso wichtiger, als die Teenager im Laufe ihres Lebens gelernt haben, Systeme von Heimen auszuhebeln, sich von Strukturen zu verabschieden. Eine fatale Entwicklung, der man sich in Guggisberg mit grossem Fachwissen entgegensetzt, und mit hoher Sozialkompetenz.
Kommunikation unerlässlich
Spricht man mit Rolf Küng, so wird bald klar, dass er offen kommuniziert, transparent. Diese Art der Kommunikation trägt er nicht bloss nach innen, sondern auch nach aussen, zum Beispiel mit einem monatlichen Kurzbulletin für Interessierte, was sich im Moment in der «77B» gerade so tut.
Und Erfolgserlebnisse, gibt es das auch, in dieser schwierigen Umwelt? Rolf Küng setzt ein Lächeln auf: «Ja, die gibt es, zum Glück. Letzthin hatte ich den Anruf eines ehemaligen Schülers, der seine Ausbildung zum Koch erfolgreich abgeschlossen hat und jetzt vorbeikommen will, um uns seine Verlobte vorzustellen.»