«Hey, ich bin Noli», sagt Nolawit Tesema, während sie in ihrer Trainingskleidung die Tür öffnet. Sie ist ein sympathisches und selbstbewusstes Energiebündel. Nicht nur auf der Bühne als Tänzerin, sondern auch beim Gespräch am Holztisch vor ihrem Trainingsraum im Mattequartier. Schnell ist klar: Um sich in dieser Branche durchzusetzen, braucht es mentale Stärke, etwas Glück und eben ein gutes Selbstbewusstsein. Ansonsten gehe man unter, sagt die 26-Jährige. «Denn ab einem gewissen Punkt kommt es nicht mehr auf dein Talent, sondern auf deine Grösse, deine Haare oder dein Aussehen an», legt sie gleich zu Beginn des Gesprächs offen.
Geflasht und gefordert
Seit Tesema klein ist, begleitet sie das Tanzen. Als 5-Jährige startete sie mit Ballett in einer Könizer Tanzschule und wechselte schon bald zu Hip-Hop. Später kamen Stunden in Jazz und zeitgenössischem Tanz dazu. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie vorwiegend in der New Dance Academy, während ihrer Zeit am Gymer Lerbermatt trainierte sie mehrmals pro Woche und war Mitglied verschiedener Tanzgruppen, mit denen sie an Schweizermeisterschaften teilnahm. Seitdem ist einiges passiert. Nach der Matur beschloss sie, ein Zwischenjahr einzulegen. Eines, das sie voll und ganz dem Tanzen widmete, ohne Lernstress und Prüfungen. Sie arbeitete, sparte und reiste schliesslich nach Los Angeles. Dort lernte sie viele Leute kennen, solche, die Tänzerinnen werden wollen, und solche, die es bereits sind. «Plötzlich stand ich vor meinen Vorbildern und besuchte dieselben Tanzstunden. Ich war dort maximal geflasht und gefordert.»
Vitamin B
Noch im selben Jahr nahm Tesema an Tanzcamps in ganz Europa teil, etwa in Polen oder Irland, konnte sich weiter vernetzen und grenzte sich immer mehr von der Tanzszene hierzulande ab. Die Schweiz sei klein. Um professionell weiterzukommen, müsse man sich ab einem gewissen Zeitpunkt ins Ausland begeben, weiss sie. Nach einem weiteren Tanzzwischenjahr begann Tesema ihr BWL-Studium in Bern. «Da gab es zum Glück keine Anwesenheitspflicht.» Bald schon zog sie schliesslich nach Berlin zu einer Freundin und Tänzerin. Ein Schritt, für den sie später sehr dankbar ist. Tesema verschränkt ihre Arme, überlegt, schaut kurz nach oben an die Decke. «Da erhielt ich durch viel Glück und Zufall plötzlich meine erste Jobanfrage.» Da ihre Mitbewohnerin ihren Job im Musikvideo der deutschen Rapperin Badmómzjay nicht wahrnehmen konnte, vermittelte sie ihn kurzerhand an Tesema weiter. «Vitamin B und etwas Glück ist alles in dieser Industrie. Ist man zur richtigen Zeit mit den richtigen Leuten zusammen, ist das die Hälfte der Miete.» Noch am Set wird Tesema für einen anderen Job angefragt. Diesmal für die Giovanni Zarrella Show, eine Schlagershow im ZDF. «Ich ging nach dem Dreh kurz nach Hause und flog dann direkt nach München – das halbe Makeup des vorherigen Drehs war noch auf meinem Gesicht», so Tesema. Doch es habe sich gelohnt, denn diese Gelegenheit sei ihr Start ins Tanzbusiness gewesen.
Der Choreograf sieht alles
«Ich war in meinem Leben noch nie so gefordert», blickt sie auf die Liveshow zurück, zu der mittlerweile weitere dazugekommen sind. So tanzte sie etwa bei «Deutschland sucht den Superstar» oder begleitete Künstlerinnen wie Nura oder Loredana auf ihren Tourneen. Kurz vor dem Gespräch trat Tesema für Shirin Davids Performance ihrer neuste Single «Bauch, Beine, Po» im ZDF auf. Eine bekannte deutsche Rapperin, für die sie bereits früher in einem Musikvideo getanzt hatte. Im Livefernsehen aufzutreten mache zwar grossen Spass. «Doch Fehler kann man sich danach noch anschauen, aber nicht mehr ändern. Das erzeugt einen riesen Druck.» Und was dem Publikum meist entgeht, fällt der Choreografin fast immer auf. Und schliesslich entscheidet sie, wen sie das nächste Mal ins Team holt.
Das grosse Geld bleibt aus
Eines von vielen Beispielen, wieso das Tanzbusiness trotz Nervenkitzel, Rampenlicht und Glamour auch schwierige Seiten mit sich bringt. «Auch wenn du in einem Team dabei bist, brauchen sie dich plötzlich doch nicht mehr. Man ist halt ersetzbar», so Tesema. Sie müsse sich deshalb stets vor Augen führen, dass es dort jeweils um ihr tänzerisches Ich und nicht um sie als Person gehe. Und mit der Unvorhersehbarkeit kommt auch die finanzielle Unsicherheit. «Diesen Job machst du nicht fürs Geld, das ist klar.» Es sind andere Faktoren, solche die stärker als der Lohn oder die Jobsicherheit sind, die schlussendlich überwiegen. Denn trotz ihrer realistischen Sichtweise verliert Tesema eines nicht aus den Augen. «Ich kann mit meinem Hobby Geld verdienen. Ich meine, was gibt es Schöneres?» Ein Glänzen in den Augen, dann ein Strahlen. «Ich glaube, das Tanzen gibt mir Frieden. Es ist Teil meines Lebens, ganz egal ob im eigenen Kämmerli zuhause oder auf der Bühne.»
Los Angeles, Berlin, London
Mittlerweile konnte die Könizerin ihren Bachelor abschliessen und hat bereits ein nächstes Ziel: London. Dort schloss sie vor einem Jahr mit Europas führender Tanzagentur AMCK gleich einen Vertrag ab. Im März reiste sie schliesslich für drei Monate nach London. «Ich trainierte und wollte herausfinden, ob ich mir dort ein Leben vorstellen könnte.» Und das tat es. Sobald sie ein Visum erhält, will Tesema abwechslungsweise ein paar Monate in London und Bern leben. «Ich könnte nun auch einen stabilen Job suchen. Das will ich aber nicht – und schlussendlich geht es darum, das zu tun, was man wirklich möchte.» In Nolawit Tesemas Fall bedeutet das: ihrer Passion zu folgen und sich dazu immer wieder aufs Neue mit viel Herzblut und Hartnäckigkeit in der Welt der Tänzerinnen zu behaupten.